1Q84: Buch 1&2
Tenor.
»Anstelle der Ziege«, fragte das Mädchen.
»Die tote Ziege war nicht mehr als ein Provisorium«, sagte der mit der tiefen Stimme. »Um den Ort, an dem wir leben, mit diesem hier zu verbinden, brauchen wir eine lebende Daughter. Als Perceiver.«
»Was macht die Mother«, fragte das Mädchen.
»Sie bleibt in der Nähe der Daughter«, sagte der mit der hohen Stimme.
»Wann wacht die Daughter auf«, fragte das Mädchen.
»In zwei oder drei Tagen«, sagte der Tenor.
»Eins von beidem«, sagte der Leise.
»Du musst dich gut um die Daughter kümmern«, sagte der Bariton. »Denn sie ist ja deine Tochter.«
»Ohne die Fürsorge ihrer Mother ist sie unvollkommen. Sie lebt dann nicht lange«, sagte der mit der hohen Stimme.
»Und mit der Daughter verliert die Mother den Schatten ihrer Seele«, sagte der Tenor.
»Was wird aus ihr, wenn sie den Schatten ihrer Seele verloren hat«, fragte das Mädchen.
Die Little People tauschten Blicke. Keiner antwortete.
»Wenn die Daughter erwacht, werden zwei Monde am Himmel sein«, sagte der Heisere.
»Die beiden Monde reflektieren den Schatten der Seele.«
»Es werden zwei Monde sein«, wiederholte das Mädchen mechanisch die Worte.
»Das ist das Zeichen. Du musst den Himmel aufmerksam im Auge behalten«, flüsterte der Leise. »Sehr aufmerksam«, betonte er. »Und die Monde zählen.«
»Hoho«, tönte einer dazwischen.
»Hoho«, stimmten die übrigen sechs ein.
Das Mädchen floh.
Hier war etwas falsch, etwas stimmte nicht. Etwas lag gewaltig schief, ging wider die Natur. Das war dem Mädchen klar. Was die Little People wollten, wusste es nicht. Aber der Anblick seiner eigenen Gestalt, eingebettet in die Puppe aus Luft, hatte es vor Grauen erschauern lassen. Mit einem lebendigen anderen Ich, das sich bewegte, konnte es nicht leben. Es musste fort von hier. Und das so schnell wie möglich. Solange die Daughter noch nicht erwacht war. Solange es noch keine zwei Monde gab.
In der Gemeinschaft war es verboten, Bargeld zu haben. Aber der Vater des Mädchens hatte ihm einen Zehntausend-Yen-Schein und einige Münzen gegeben. »Versteck das, sodass niemand es findet«, hatte er gesagt. Einen Zettel mit einem Namen, einer Adresse und einer Telefonnummer hatte er ihm auch gegeben. »Solltest du einmal von hier fliehen müssen, kaufst du von dem Geld eine Fahrkarte, steigst in den Zug und fährst zu der Adresse.«
Vielleicht hatte sein Vater mit der Möglichkeit gerechnet, dass in der Gemeinschaft eines Tages etwas Ungutes entstehen würde. Das Mädchen zögerte nicht. Handelte unverzüglich. Es hatte nicht einmal Zeit, von seinen Eltern Abschied zu nehmen.
Es holte die zehntausend Yen, das Kleingeld und den Zettel aus der Flasche, die es in der Erde vergraben hatte. In der Schule sagte es, ihm sei nicht wohl, man möge es den Sanitätsraum aufsuchen lassen. Das Mädchen verließ den Klassenraum und dann die Schule. Es stieg in den nächsten Bus und fuhr zum Bahnhof. Dort reichte es den Zehntausend-Yen-Schein über den Schalter, kaufte eine Fahrkarte nach Futamatao und nahm das Wechselgeld. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass es eine Fahrkarte kaufte, Wechselgeld entgegennahm und in einen Zug stieg. Doch sein Vater hatte ihm genau geschildert, was es zu tun hatte, und daran hielt es sich.
Wie auf dem Zettel stand, stieg das Mädchen am Bahnhof der Chuo-Linie in Futamatao aus und rief von einem öffentlichen Telefon die Nummer an, die der Vater ihm gegeben hatte. Der Mann, den es anrief, war ein guter Freund von ihm aus alten Tagen. Er malte Bilder im japanischen Stil. Er war etwa zehn Jahre älter als der Vater des Mädchens und lebte allein mit seiner Tochter in den Bergen bei Futamatao. Seine Frau war vor einer Weile gestorben. Die Tochter war ein Jahr jünger als das Mädchen und hieß Kurumi. Auf den Anruf des Mädchens kam er sofort zum Bahnhof und nahm den kleinen Flüchtling mit großer Wärme auf.
Am Tag nachdem es im Haus des Malers Zuflucht gefunden hatte, schaute das Mädchen aus dem Fenster seines Zimmers zum Himmel und entdeckte, dass ein weiterer Mond hinzugekommen war. In der Nähe des ihm vertrauten Mondes stand wie eine vertrocknete Bohne ein zweiter kleinerer Mond. Die Daughter ist erwacht, dachte das Mädchen. Der zweite reflektiert den Schatten der Seele. Sein Herz erbebte. Die Welt hatte einen Wandel vollzogen. Es würde etwas geschehen.
Das Mädchen hatte keine Nachricht von seinen Eltern. Vielleicht hatte man in der Gemeinschaft noch gar
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