1Q84: Buch 1&2
an Bord eines (ebenso verkleinerten) U-Boot-artigen Gefährts durch die Adern eines Patienten in dessen Gehirn vordringen konnten. Ihre Situation war ähnlich. Sie stellte sich vor, wie sie in Tengos Adern durch seinen Körper kreiste. In ständigem Kampf gegen angreifende weiße Blutkörperchen, die den Eindringling (also sie) abzustoßen trachteten, bewegte sie sich auf den Krankheitsherd – die Wurzel allen Übels – zu. Durch die Beseitigung des Leaders in jenem Hotelzimmer hatte sie diese Wurzel vielleicht erfolgreich »eliminiert«.
Aomame erwärmte sich für diese Vorstellung. Ich habe meine Mission erfüllt, dachte sie. So schwierig sie war. Ich hatte die ganze Zeit Angst. Inmitten von Donnergrollen habe ich meinen Auftrag cool und tadellos erledigt. Wahrscheinlich vor Tengos Augen. Sie dachte mit Stolz daran.
Wenn sie bei dem Bild der Reise durch die Blutbahn blieb, würde der Körper sie bald als Abfallprodukt, dessen Aufgabe beendet war, ausscheiden. Das war das Gesetz, nach dem ein Organismus funktionierte. Diesem Schicksal konnte sie nicht entrinnen. Aber was macht das schon aus?, dachte Aomame. Ich bin in Tengo. Seine Wärme umgibt mich, sein Pulsschlag lenkt mich. Sein Denken und seine Regeln leiten mich. Und vielleicht sogar sein Stil. Es ist wunderbar, auf diese Weise ein Teil von ihm zu sein.
Auf dem Boden sitzend, schloss Aomame die Augen. Sie hielt sich das Buch an die Nase und atmete den Geruch von Papier und Druckerschwärze ein. Ruhig überließ sie sich dem sie umgebenden Fluss. Sie lauschte auf Tengos Herzschlag.
Das ist das Königreich, dachte sie.
Ich bin bereit zu sterben. Jederzeit.
KAPITEL 20
Tengo
Das Walross und der verrückte Hutmacher
Kein Zweifel. Dort waren zwei Monde.
Der eine war der, den es schon immer gegeben hatte, der andere war viel kleiner und grünlich. Er war unregelmäßiger geformt als der ursprüngliche Mond und bei weitem nicht so hell. Er wirkte wie ein unerwünschtes hässliches Kind, das entfernte arme Verwandte jemandem durch die Macht irgendwelcher Umstände aufgedrängt hatten. Er war weder Einbildung noch eine optische Täuschung, sondern ein echtes Gestirn mit Substanz und festen Konturen. Kein Flugzeug, kein Luftschiff und auch kein Satellit. Auch kein Mond aus Pappe, den irgendjemand zum Spaß aufgehängt hatte. Er war ohne jeden Zweifel ein Stück Fels, der stumm und unerschütterlich seine Position am nächtlichen Himmel einnahm und diesen Platz so entschieden wahrte wie ein vom Schicksal verliehenes Muttermal oder ein nach reiflicher Überlegung gesetzter Punkt.
Lange, fast herausfordernd, betrachtete Tengo den neuen Mond. Ohne den Blick abzuwenden. Kaum, dass er blinzelte. Doch er konnte starren, wie er wollte, der Mond, der sich so unendlich schweigsam mit seinem harten Herzen aus Stein dort am Himmel niedergelassen hatte, rührte sich nicht.
Tengo löste die zur Faust geballte Rechte und schüttelte beinahe unbewusst ein wenig den Kopf. Es ist genau wie in Die Puppe aus Luft , dachte er. Eine Welt mit zwei Monden. Mit der Daughter ist ein zweiter Mond entstanden.
»Das ist das Zeichen. Du musst den Himmel aufmerksam im Auge behalten«, sagen die Little People zu dem Mädchen.
Er selbst hatte diesen Satz geschrieben. Und auf Komatsus Anraten den neuen Mond so detailliert und anschaulich wie möglich geschildert. Er hatte sogar besondere Mühe auf diese Passage verwandt. Und nun entsprach die Gestalt des neuen Mondes genau der, die er selbst erdacht hatte.
»Sieh es doch mal so«, hatte Komatsu gesagt. »Die Leser kennen den Himmel mit einem Mond. Verstehst du? Aber einen Himmel mit zwei Monden hat wohl noch keiner gesehen. Und wenn in einem Roman etwas vorkommt, das die Leser noch nie gesehen haben, brauchen sie in der Regel eine möglichst detaillierte und anschauliche Schilderung.«
Ein wichtiger Hinweis.
Mit einem Blick zum Himmel schüttelte Tengo abermals den Kopf. Dieser neue Mond hatte genau die Größe und Gestalt, die Tengo ihm in seiner Phantasie gegeben hatte. Er war das absolute Ebenbild seines literarischen Kollegen.
Das ist unmöglich, dachte Tengo. Was ist das für eine Realität, die eine Metapher imitiert? »Völlig unmöglich«, sagte er nun laut. Seine Stimme klang etwas krächzend. Er war viel gelaufen, und seine Kehle war rau und trocken. Es war in jeder Hinsicht unmöglich. Er ist Fiktion . Er gehörte in eine Welt, die nicht real war. In die Welt der phantastischen Geschichte, die Fukaeri Professor Ebisunos
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