1Q84: Buch 1&2
Tochter Azami abends erzählt hatte und die Tengo später für sie ausgestaltet hatte.
Hieß das – fragte er sich –, dass er sich in der Welt des Romans befand? War er durch irgendeinen Einfluss aus der Realität hinauskatapultiert worden und in die Welt geraten, in der Die Puppe aus Luft spielte? Wie Alice, als sie in den Kaninchenbau fiel? Oder hatte die Realität sich der Welt von Die Puppe aus Luft angepasst? Und existierte die ursprüngliche Welt – die ihm vertraute Welt mit nur einem Mond – nun nirgends mehr? Hatte die Macht der Little People in irgendeiner Form etwas damit zu tun?
Auf der Suche nach einer Antwort schaute er sich um. Doch sein Blick fiel nur auf eine ganz alltägliche Szenerie. Ein großstädtisches Wohnviertel, an dem aber auch rein gar nichts Merkwürdiges oder Außergewöhnliches zu entdecken war. Hier gab es weder eine böse Herzkönigin noch ein Walross noch einen verrückten Hutmacher. Nur den verlassenen Sandkasten, die Schaukel, die ihr anorganisches Licht verströmende Quecksilberlaterne, die Äste des Keyakibaums, die verschlossene Toilette, das neue fünfstöckige Wohnhaus (in dem nur vier Wohnungen beleuchtet waren), einen Schaukasten für städtische Mitteilungen, einen roten Coca-Cola-Automat, einen falsch geparkten grünen VW Golf – ein älteres Modell übrigens –, Elektromasten und -leitungen und in der Ferne ein Neonschild in grellen Farben. Die üblichen Geräusche, die übliche Beleuchtung. Seit sieben Jahren lebte Tengo nun im Stadtteil Koenji. Nicht einmal, weil es ihm hier besonders gefiel. Er hatte durch Zufall eine Wohnung in einem preiswerten Mietshaus nicht weit vom Bahnhof gefunden. Weil sie verkehrsgünstig lag und ein Umzug ihm zu lästig gewesen wäre, war er einfach hier wohnen geblieben. Inzwischen kannte er die Gegend ziemlich genau. Es wäre ihm sofort aufgefallen, wenn sich irgendwo etwas verändert hätte.
Wann war dieser Mond hinzugekommen? Tengo fühlte sich außerstande, dies zu beurteilen. Vielleicht gab es schon seit Jahren zwei Monde, und er hatte es nur nicht bemerkt. Er hatte schon so vieles verpasst, weil er nie richtig Zeitung las und auch nicht fernsah. Es gab unzählige Dinge, die jeder außer ihm wusste. Oder vor kurzem war irgendetwas passiert, sodass es plötzlich zwei Monde gab. Er hätte gern jemanden gefragt: Entschuldigen Sie die sonderbare Frage, aber seit wann gibt es denn zwei Monde? Wissen Sie das vielleicht? Aber es war niemand in der Nähe. Nicht einmal eine Katze war zu sehen.
Doch, da war jemand. Jemand schlug ganz in der Nähe mit einem Hammer Nägel in die Wand. Klopfklopfklopf ertönte es ununterbrochen. Sowohl die Wand als auch der Nagel mussten ziemlich hart sein. Aber wer um alles in der Welt schlug um diese Zeit Nägel ein? Tengo blickte sich verwundert um, konnte aber nirgends eine entsprechende Wand entdecken. Und auch niemanden, der die Nägel einschlug.
Einen Moment später begriff er, dass das Hämmern sein Herzschlag war. Er hatte einen Adrenalinstoß bekommen, und sein Herz pumpte nun hastig und mit ohrenbetäubendem Lärm große Mengen Blut durch seinen Körper.
Der Anblick der zwei Monde musste ihn hervorgerufen haben. Tengos Nervensystem geriet aus dem Gleichgewicht, und ihm wurde schwindlig. Er ließ sich auf die Plattform der Rutschbahn herunter, lehnte sich im Sitzen gegen die Stangen und wartete mit geschlossenen Augen darauf, dass der Schwindel vorüberging. Es fühlte sich an, als hätte sich die Erdanziehungskraft um ihn herum leicht verändert. Irgendwo drückte die Flut, und irgendwo herrschte der Sog der Ebbe. Und die Menschen taumelten hilflos zwischen insane und lunatic hin und her.
Das Schwindelgefühl erinnerte Tengo daran, dass ihn die Vision von seiner Mutter im weißen Unterkleid schon ewig nicht mehr heimgesucht hatte. Schon länger hatte er nicht mehr gesehen, wie sie den jungen Mann an ihrer Brust saugen ließ und er als Baby daneben lag. So viele Jahre hatte ihn dieses Bild gepeinigt, und nun hatte er es fast vergessen. Wann hatte er die Vision das letzte Mal gehabt? Er wusste es nicht einmal mehr. Vielleicht um die Zeit, als er anfing, an seinem neuen Roman zu schreiben? Aus irgendeinem Grund schien der Geist seiner Mutter damals an eine Grenze gestoßen zu sein und hielt sich nun nicht mehr in seiner Umgebung auf.
Stattdessen saß er jetzt auf einer Rutsche auf einem Spielplatz in Koenji und sah zwei Monde am Himmel. Wie dunkles, allmählich vordringendes Wasser kreiste
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