1Q84: Buch 3
dem Bett und zog einen Morgenmantel über ihren Schlafanzug. Sie kochte sich einen Kräutertee, setzte sich an den Tisch im Esszimmer und schlürfte ihn langsam. Gedanken stiegen in ihr auf, kamen und gingen, ohne dass sie sie richtig fassen konnte. Wie in der Ferne aufziehende Regenwolken ballten sie sich zu geheimnisvollen Gebilden zusammen. Sie konnte ihre Formen erkennen, aber nicht die Umrisse. Aus irgendeinem Grund schien eine Diskrepanz zwischen Form und Umriss zu bestehen. Den Teebecher in der Hand, ging sie ans Fenster und blickte durch den Spalt im Vorhang hinüber zum Spielplatz.
Natürlich war um ein Uhr in der Nacht niemand dort. Sandkasten, Schaukeln und Rutschbahn lagen verlassen in der Dunkelheit. Die Nacht war ungewöhnlich ruhig und völlig windstill, keine Wolke am Himmel. Die beiden Monde, der große und der kleine, beschienen die erstarrten Büsche und Bäume. Sie hatten ihre Position mit der Erdumdrehung verändert, befanden sich aber noch in ihrem Blickfeld.
Während sie dort am Fenster stand, dachte Aomame an das schäbige Mietshaus, in dem der Wasserkopf verschwunden war, und an das weiße Namensschild an der Tür der Wohnung Nummer 303, auf das der Name Kawana aufgedruckt war. Das Schild war nicht neu; es war an den Ecken abgestoßen und hatte durch die Feuchtigkeit ein paar Stockflecken bekommen. Es steckte sicher schon seit einiger Zeit in dem dafür vorgesehenen Schlitz.
Tamaru würde für sie herausfinden, ob der Mieter der Wohnung wirklich Tengo Kawana war oder eine andere Person gleichen Namens. Bald, vielleicht sogar schon morgen, würde er ihr Bericht erstatten. Er war ein Mann, der keine Zeit verlor. Dann würde sie es genau wissen. Vielleicht würde sie Tengo sogar schon bald sehen. Allein diese Möglichkeit raubte Aomame fast den Atem. Es war, als werde die Luft um sie herum plötzlich dünner.
Doch womöglich würden die Dinge sich nicht so günstig entwickeln. Selbst wenn die Person in Nummer 303 wirklich Tengo war, lauerte irgendwo in dem Haus dieser unheimliche Wasserkopf. Was genau er im Schilde führte, konnte sie nicht wissen, aber bestimmt war es nichts Gutes. Der Kerl heckte irgendetwas aus, um zu verhindern, dass sie sich wiedersahen.
Aber keine Angst, sagte sich Aomame. Auf Tamaru ist Verlass. Und er ist genauer, tüchtiger und erfahrener als irgendjemand sonst. Ich kann es ruhig ihm überlassen, den Wasserkopf zur Strecke zu bringen. Nicht nur für mich, auch für Tamaru selbst ist dieser Kerl ein lästiges Subjekt und ein Risikofaktor, den er beseitigen muss.
Doch was, wenn es Tamaru nun aus irgendeinem Grund nicht ratsam erscheint, dass Tengo und ich uns wiedersehen? Dann würde er alles tun, um unsere Begegnung zu vereiteln. Tamaru und ich hegen eine gewisse persönliche Sympathie füreinander. Aber für ihn haben die Interessen und die Sicherheit der alten Dame in jedem Fall absoluten Vorrang. Sie zu schützen ist seine eigentliche Aufgabe. Was er tut, tut er ja nicht um meinetwillen.
Diese Gedanken beunruhigten Aomame. Sie konnte ja nicht wissen, welchen Platz ihre Begegnung mit Tengo auf Tamarus Prioritätenliste einnahm. War es womöglich ein fataler Irrtum gewesen, ihn Tamarus Obhut anzuvertrauen? Musste sie die Probleme, die sie und Tengo hatten, nicht ganz allein und aus eigener Kraft bewältigen?
Aber ich kann es ja nicht mehr rückgängig machen, dachte sie. Jetzt habe ich mich Tamaru schon anvertraut. Ich konnte ja auch gar nicht anders. Der Wasserkopf lauert wahrscheinlich in dem Haus auf mich. Es wäre glatter Selbstmord, allein dorthin zu gehen. Die Uhr tickt, und abwarten ist nicht drin. Tamaru einzuweihen und alles in seine Hände zu legen war die bestmögliche Entscheidung.
Aomame beschloss, nicht weiter über Tengo nachzudenken. Je länger sie grübelte, desto mehr verstrickte sie sich in das Gespinst ihrer Gedanken, bis sie sich kaum noch rühren konnte. Und in die Monde schauen sollte sie auch nicht mehr. Ihr stummes Licht verwirrte Aomames Herz. Es veränderte den Fluss der Gezeiten und störte Leben in den Wäldern auf. Aomame trank den letzten Schluck von ihrem Kräutertee, verließ ihren Platz am Fenster und wusch den Becher in der Spüle ab. Sie sehnte sich nach einem Schluck Brandy, wollte aber wegen der Schwangerschaft keinen Alkohol zu sich nehmen.
Aomame setzte sich auf das Sofa, schaltete die kleine Leselampe ein und beschloss, noch einmal Die Puppe aus Luft zu lesen. Mittlerweile hatte sie sie bestimmt zehn Mal gelesen. Die
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