1Q84: Buch 3
Geschichte war nicht lang, und sie kannte fast jeden Satz auswendig. Dennoch wollte sie sie noch einmal aufmerksamer lesen. Schlafen konnte sie ohnehin nicht. Und vielleicht hatte sie ja doch noch etwas übersehen.
Die Puppe aus Luft war eine verschlüsselte Geschichte, die ein Geheimnis barg. Eriko Fukada hatte sie erzählt, um eine Botschaft in Umlauf zu bringen. Dann hatte Tengo sie umgeschrieben und ein geschliffenes, lesenswertes Werk daraus gemacht. Zusammen hatten die beiden etwas geschaffen, das eine große Zahl von Lesern ansprach. Wie hatte der Leader sich ausgedrückt? Sie hatten ihre Kräfte im Dienst einer bestimmten Aufgabe vereint. Schenkte sie seinen Worten Glauben, hatten die »Stimmen« aufgehört, zu ihm zu sprechen, weil durch die Veröffentlichung von Die Puppe aus Luft bestimmte Geheimnisse gelüftet worden waren. Die Little People hatten ihre Macht verloren. Die Quelle war ausgetrocknet und der Fluss versiegt. Das Buch hatte eine durchaus dramatische Wirkung ausgeübt.
Sie nahm sich jede einzelne Zeile der Geschichte vor.
Als die Zeiger der Wanduhr auf halb drei standen, hatte Aomame das Buch bereits zu zwei Dritteln gelesen. Sie schlug es zu und versuchte, sich über ihre starken Empfindungen klarzuwerden. Auch wenn es nicht gerade eine Offenbarung war, so hatte sich doch ein deutliches Bild geformt.
ICH BIN NICHT ZUFÄLLIG HIERHERGEBRACHT WORDEN.
Das war der Eindruck, den sie gewonnen hatte.
ICH BIN GENAU DA, WO ICH SEIN SOLL.
Bisher dachte ich, ich sei unfreiwillig im Jahr 1Q84 gelandet, weil ich in irgendwelche Pläne verwickelt wurde. Dass absichtlich eine Weiche umgestellt wurde, sodass der Zug, in dem ich saß, von der ursprünglichen Strecke abgekommen und in dieser neuen merkwürdigen Welt gelandet ist. Und ehe ich michs versah, war ich hier . Auf dieser Welt, in der es Little People und zwei Monde gibt. Und die zwar einen Ein-, aber keinen Ausgang hat.
So hatte der Leader es ihr vor seinem Tod erklärt. Der Zug sei die Geschichte, die Tengo geschrieben habe, und sie sei Teil dieser Geschichte, aus der es kein Entrinnen gab. Deshalb sei sie hier. Letztendlich als passives Wesen. Eine verstörte, ahnungslose Nebendarstellerin, die durch dichten Nebel irrte.
Aber das ist nicht alles, dachte Aomame. DAS IST GANZ UND GAR NICHT ALLES.
Ich bin nicht nur ein passives Wesen, das zufällig in jemandes Pläne verwickelt und gegen seinen Willen hierhertransportiert wurde. Das mag vielleicht teilweise zutreffen. Doch zugleich habe ich auch selbst entschieden, hier zu sein.
ICH BIN AUCH AUS EIGENEM, FREIEM WILLEN HIER.
Der Grund dafür ist klar: um Tengo wiederzusehen. Aus diesem Grund bin ich auf dieser Welt. Oder von der anderen Seite betrachtet: Aus diesem Grund ist diese Welt in mir. Wahrscheinlich handelt es sich um ein sich endlos spiegelndes Paradox. Ich bin ein Teil dieser Welt, und diese Welt ist ein Teil von mir.
Aomame konnte natürlich nicht wissen, wovon die Geschichte handelte, an der Tengo gerade schrieb. Sie konnte sich nur denken, dass es darin ebenfalls zwei Monde gab und die Little People in ihr ein und aus gingen. Es war Tengos Geschichte und zugleich auch ihre, so viel war ihr klar.
Sie erkannte es, als sie noch einmal die Szenen las, in denen die kleine Heldin nachts mit den Little People an der Puppe aus Luft arbeitete. Während Aomame die detaillierte, lebhafte Schilderung verfolgte, spürte sie, wie sich in ihrem Unterleib langsam etwas Warmes ausbreitete. Diese Wärme besaß eine schmelzende Tiefe. Die Quelle der Wärme war klein, aber intensiv. Was sie war und was sie bedeutete, wusste Aomame, ohne darüber nachdenken zu müssen. Sie kam von dem Kleinen . Es reagierte mit Hitze auf die Szene, in der die Heldin mit den Little People die Puppe aus Luft fertigte.
Aomame legte das Buch auf den Tisch neben sich, öffnete den untersten Knopf ihres Schlafanzugs und legte sich die Hand auf den Leib. Ihre Handfläche spürte die Wärme an der Stelle, beinahe so, als würde sie ein oranges Licht verströmen. Aomame schaltete die Leselampe aus und starrte angestrengt in die Dunkelheit. Sie sah ein schwaches, kaum wahrnehmbares Leuchten. Das Licht existierte. Ich bin nicht allein, dachte Aomame. Wir sind eins. Vielleicht dadurch, dass wir synchron die gleiche Geschichte erleben.
Und wenn Tengos Geschichte zugleich auch meine ist, könnte doch auch ich die Handlung schreiben. Ich könnte etwas hinzufügen oder sogar etwas ändern. Und vor allem den Ausgang so
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