1Q84: Buch 3
Schwester Tamura. »Wir haben jede Menge Zeit, die wir Ihnen gerne widmen. Wie geht denn Ihre lange Geschichte?«
»Erzählen, erzählen!«, rief Schwester Adachi, klatschte leicht in die Hände und kicherte.
»Sie ist nicht besonders interessant«, sagte Tengo. »Eher banal und ziemlich zusammenhanglos.«
»Es genügt ja, wenn Sie uns eine Zusammenfassung geben«, sagte Schwester Omura. »Haben Sie nun eine Freundin oder nicht?«
»Wenn Sie mich so fragen«, sagte Tengo resigniert, »eigentlich nicht.«
»Hm«, machte Schwester Tamura. Sie rührte das Eis in ihrem Glas mit dem Finger um, dass es klirrte, und leckte ihn dann ab. »Wenn man lange für sich bleibt, wird man verschroben.«
Schwester Adachi kicherte wieder. »Verschroben«, sagte sie und tippte sich mit dem Finger an die Schläfe.
»Bis vor kurzem war ich aber mit jemandem zusammen«, verteidigte Tengo sich.
»Aber plötzlich war sie weg?«, sagte Schwester Tamura und drückte mit dem Finger gegen den Steg ihrer Brille.
Tengo nickte.
»Das heißt, sie hat Sie sitzengelassen«, sagte Schwester Omura.
»Ich weiß nicht genau«, sagte Tengo und überlegte. »Vielleicht könnte man es so nennen. Ja, wahrscheinlich.«
»Könnte es sein, dass die Dame etwas älter war als Sie?«, fragte Schwester Tamura forschend.
»Sie haben recht«, sagte Tengo. Woher sie das bloß wusste?
»Seht ihr, wie ich gesagt habe«, wandte Schwester Tamura sich triumphierend an die anderen beiden. Diese nickten.
»Tengo ist bestimmt mit einer älteren Frau zusammen, habe ich gesagt. Das rieche ich«, erklärte Schwester Tamura.
»Schnupper, schnupper«, sagte Schwester Adachi.
»Außerdem ist sie verheiratet«, sagte Schwester Omura in trägem Ton. »Oder nicht?«
Nach kurzem Zögern nickte Tengo. Jetzt hatte es auch keinen Zweck mehr zu lügen.
»Böser Junge«, sagte Schwester Adachi und tippte Tengo mit dem Finger auf den Oberschenkel.
»Wie viel älter denn?«
»Zehn Jahre«, sagte Tengo.
»Oho!«, machte Schwester Tamura.
»Aha, Sie haben sich also von einer älteren, verheirateten Dame verwöhnen lassen«, sagte Schwester Omura, die immerhin Kinder hatte. »Da habe ich ja vielleicht auch noch Chancen, den lieben, einsamen Jungen zu trösten. Ganz so übel sehe ich ja noch nicht aus.«
Sie griff nach Tengos Hand und wollte sie an ihre Brust drücken, aber ihre Kolleginnen hielten sie davon ab. Offenbar fanden sie, dass zwischen einer Krankenschwester und dem Angehörigen eines Patienten eine gewisse Grenze gewahrt bleiben sollte, auch wenn sie sich erlaubten, ein bisschen über die Stränge zu schlagen. Vielleicht fürchteten sie auch, dass jemand sie beobachten könnte. In einer Kleinstadt konnte sich ein Gerücht im Nu verbreiten. Vielleicht war ja auch Schwester Omuras Mann ausgesprochen eifersüchtig. Und Tengo wollte es ohnehin vermeiden, in noch mehr Schwierigkeiten verwickelt zu werden.
»Jedenfalls bewundern wir Sie sehr, Tengo«, sagte Schwester Tamura, um das Thema zu wechseln. »Sie kommen eigens aus Tokio hierher, um Ihrem Vater jeden Tag mehrere Stunden vorzulesen – das ist schon eine Leistung.«
»Ja, bewundernswert«, sagte die junge Schwester Adachi und nickte. »Ihnen gebührt Respekt.«
»Wissen Sie, Tengo, wir loben Sie immer«, sagte Schwester Tamura.
Tengo errötete unwillkürlich. Er war ja gar nicht hier, um sich um seinen Vater zu kümmern, sondern weil er hoffte, die Puppe aus Luft und die darin schlummernde Aomame ein zweites Mal zu sehen. Das war so gut wie Tengos einziger Beweggrund. Dass sein Vater im Koma lag, war letzten Endes nicht mehr als ein Vorwand. Aber das konnte er ihnen auf keinen Fall anvertrauen. Um das zu tun, hätte er ihnen zuerst erklären müssen, was eine »Puppe aus Luft« war.
»Bisher habe ich ja nichts für ihn tun können«, rang er sich ab und versuchte, seinen großen kräftigen Körper möglichst klein zu machen, was auf dem winzigen Holzstuhl besonders ungelenk wirkte. Doch die Krankenschwestern deuteten dieses sonderbare Verhalten als bloße Bescheidenheit.
Tengo wollte sagen, er sei müde, damit er aufstehen und sich in seine Unterkunft zurückziehen konnte, aber er verpasste den richtigen Moment. Er war von Natur aus niemand, der sich besonders gut durchsetzen konnte.
»Ja, aber um noch einmal auf den Anfang unseres Gesprächs zurückzukommen«, sagte Schwester Omura und räusperte sich. »Warum hat Ihre Freundin sich von Ihnen getrennt? Es lief doch ganz gut, oder? Oder hat ihr Mann
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