1WTC
Mikael steckt fest.
Bisweilen kommt er sich so vor, als würde er einen Anschlag planen. Er beginnt, sich selbst durch die Augen der Überwacher zu sehen: Er ist jemand, der im Netz Wirtschaftsdaten sammelt, Fotos von Gebäuden macht, die Sicherheitslage auskundschaftet und die Wachleute in Gespräche verwickelt.
So vergehen Mikaels erste Tage in New York. Ein wenig enttäuschend, wenn er ehrlich ist. Und sehr erschöpfend.
Heute Abend kommt Syana zurück. Eigentlich kann er es sich nicht leisten, aber für ihre Rückkehr hat Mikael bei Dean & DeLuca eingekauft. Sekt, Wein, Austern, Fisch, Gemüse.
Die Begrüßung ist kurz und heftig, im Stehen an der Spüle. Noch außer Atem öffnet Mikael den Sekt und schenkt zwei Gläser ein. »Wie war’s in Vancouver?«
»Okay. Electronic Arts ist interessiert.«
«An deinem Spiel?«
»Nein. Ich hab denen was von der Uni vorgestellt. Mein Spiel ist nicht wirklich was für Electronic Arts. Die sind total kommerziell, einer der größten Player in der Video- und Computerspiel-Szene.« Syana lacht. »Mein Spiel ist doch was ganz anderes. Eigentlich gar kein Spiel mehr, sondern entertainte Wirklichkeit. Das totale Spiel, sozusagen.«
»Totales Spiel? Das klingt ja wie totaler Krieg. Was meinst du denn mit total?«
»Na, das hat schon was mit totalem Krieg zu tun. Und mit Unausweichlichkeit. Spiele haben immer Regeln, und an die muss sich jeder halten. Was ja schon mal scheiße ist, weil es eben keinen Spaß macht, sich an Regeln zu halten. Wie Spiele ausgehen, ist meistens vorhersehbar, auch bei Computerspielen. Alles prescripted. Der Spieler kann nur das machen, was der Programmierer sich ausgedacht hat. Ich habe so was schon tausendmal programmiert, und jedes Mal muss man sich überlegen, wie man den Spieler überlisten kann. Der soll schließlich nicht merken, dass er eigentlich nur das macht, was der Programmierer sich für ihn ausgedacht hat. Mein Spiel funktioniert da vollkommen anders.«
»Aber Computerspiele beruhen doch immer auf Algorithmen? Wie willst du die so verändern, dass sich das Spiel unerwartet entwickelt? Geht das überhaupt, rein logisch?«
»Hey, was ist schon logisch? Ein Spiel muss sich permanent weiterentwickeln. Ich bin doch nicht blöd und schraub nur an den Algorithmen. Ich arbeite mit einem unberechenbaren Parameter.« Syana grinst und mustert Mikael von oben bis unten. »Der Spieler selbst ist meine wichtigste Variable. In meinem Spiel führt der Spieler nicht bloß ein Programm aus, sondern er verändert die ganze Programmstruktur. Der Spieler schreibt das Spiel neu. Klingt vielleicht kompliziert und ist auch nicht ganz trivial. Das macht aber nichts, weil es ja kein kommerzielles Projekt ist, sondern was für … für sehr spezielle Spieler eben.«
Während Syana redet, legt Mikael den Fisch in die Pfanne. Zwei Filets, Loup de Mer.
Die Ausweitung des Spiels in die Realität.
Stufe 1: Der Spieler ist so in den Bann des Spiels gezogen, dass er die Welt außerhalb des Spiels nicht mehr wahrnimmt.
Stufe 2: Spiel und Alltagswelt überlagern sich, der Spieler kann nicht mehr zwischen Spiel und Wirklichkeit unterscheiden.
Stufe 3: Die Wirklichkeit wird zum Spiel, das Spiel zur Wirklichkeit.
Gamification. Der Alltag wird durch Spiele organisiert. Neue Form des Gesellschaftsspiels, das dem Sinnlosen Sinn verleiht. Als Belohnung gibt es Punkte. Das Spiel der Zukunft braucht kein Ziel, keine komplexen Regeln, keine Geschichte und keine Dramaturgie. Es ist Selbstzweck, weil es den Alltag in ein Bonussystem verwandelt.
»epic win«. iPhone-Applikation. Das Rollenspiel honoriert alltägliche Aufgaben wie Müllrausbringen oder Abwaschen mit Punktgewinnen. Lästiges wird zu einer angenehmen Herausforderung.
»Foursquare« spielt man ebenfalls auf mobilen Geräten. Hier bekommt der Spieler Punkte, wenn er in seiner Stadt »neue Dinge entdeckt«. Innerhalb seines sozialen Netzwerks kann er Freunde an einen bestimmten Ort einladen und dies über »Foursquare« kommunizieren. Je mehr Leute kommen, desto mehr Punkte gibt es.
Am nächsten Morgen scheint die Sonne auf das Bettenlager von Syana und Mikael. Neben der Matratze stehen zwei Gläser und eine leere Weinflasche.
»Wo ist denn meine Hose? Hast du zufällig Aspirin?«
»Ist in der Küche, in der Schublade mit dem Besteck, ganz hinten.«
Mikael setzt sich neben die Matratze und zieht sich an. »Jetzt mal im Ernst: Was machst du eigentlich wirklich mit dem ganzen Technikkrempel? Du kannst mir
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