1WTC
den Einsatz mussten. Wir haben natürlich versucht, das so realistisch wie möglich zu machen, richtig gute Simulationen. Wir haben ganze Panzer nachgebaut, Flugzeug-Cockpits, alles so realitätsnah wie möglich. Und dann ist etwas passiert, das wir nie erwartet hätten: Die Soldaten wurden immer schlechter, je realistischer unsere Simulation wurde. Unkonzentrierter, ängstlicher, einfach schlechter. Plötzlich wussten wir: Wenn die Soldaten denken, sie spielen, sind sie besser, als wenn alles so aussieht wie im echten Gefecht. Die waren im Spiel besser als in der Realität, verstehst du? Als wir das verstanden hatten, haben wir alles auf den Kopf gestellt. Wir haben nicht mehr versucht, die Simulation so aussehen zu lassen wie den echten Krieg, sondern den Krieg wie ein Spiel. Ein völlig neues Konzept, Krieg 2.0.«
»Und wie ging es dann weiter?«
»Wir haben neue Waffensysteme gebaut.«
Institute of Creative Technologies (ICT), University of Southern California, San Diego. Gegründet 1999. Im Jahr 2000 starten die Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) und die US-Army das Forschungs- und Entwicklungsprojekt »Future Combat Systems«, das neue Waffensysteme für die netzwerkbasierte Kriegsführung entwickelt. Im Rahmen dieses Programms erforscht das ICT neuartige Steuerungsinstrumente für Waffen, die wie das Interface von Computerspielen aufgebaut sind. Die Soldaten mit dieser neuen Art von Steuerung vertraut zu machen war die Aufgabe eines weiteren Spiels: »Future Force Company Commander« (F2C2).
Bei der Air Force haben sich derartige Technologien bereits durchgesetzt. Unbemannte, ferngesteuerte Flugzeuge sind unter anderem in Afghanistan, Pakistan, Jemen und Libyen im Einsatz, mit Kameras und Raketen bestückt. Gelenkt von einem Luftwaffenstützpunkt in den USA. Gesteuert per Joystick. Auf Knopfdruck zerstören Hellfire-Raketen Zielobjekte, die Zehntausende Kilometer von der Einsatzzentrale entfernt sind.
James Korris, der ehemalige Kreativdirektor des ICT, nennt die innere Haltung, auf denen solche Waffensysteme aufbauen, »den synthetischen Blick auf die Welt«.
Am Nachmittag geht Mikael in einem der neuangelegten Parks am Ufer des East River spazieren und lässt die letzten Tage Revue passieren. Die Nächte mit Syana, ihren Spleen, Sex mit Überwachungskameras aufzunehmen. Wie viele solcher Filme sie wohl auf ihrem Rechner hat? Und mit wie vielen anderen Männern?
Suspension of disbelief , davon hatte Syana gesprochen, als sie von ihren Spielen erzählt hat. Mikael überlegt, ob das Aussetzen der eigenen Ungläubigkeit freiwillig oder unfreiwillig erfolgt. Und wenn er Syana richtig verstanden hat, geht es ihr darum, die suspension of disbelief vom Spiel aufs Leben zu übertragen. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion zu verwischen, ohne dass es die Beteiligten bemerken. Und Syana? Vielleicht hat sie ja auch selbst längst den Bezug zur Realität verloren und ist in ihren eigenen Simulationen gefangen? So kann Mikael sich zumindest ihre Überwachungslust erklären: als verzweifelten Versuch, das, was im Leben wirklich ist, festzuhalten – damit es beim Verwischen der Grenzen von Wirklichkeit und Simulation auf keinen Fall verlorengeht.
Dann fällt ihm schlagartig die Lösung für sein eigenes Projekt ein.
Bei Syana ist besetzt. Ein Hubschrauber landet am gegenüberliegenden Ufer. Immer noch besetzt. Der Hubschrauber hebt wieder ab, dreht eine Runde und verschwindet aus Mikaels Blickfeld. Immer noch besetzt.
Mikael betrachtet die Kaianlagen, die früher den Reichtum von New York ausgemacht haben, als noch täglich Hunderte Schiffe anlegten, Waren verladen wurden und der Hafen einer der wichtigsten Arbeitgeber der Stadt war. Heute ist der Hafen immer noch wichtig, der drittgrößte der USA, bemessen am Güterumschlag. Der allerdings findet zum größten Teil auf seiner Westseite statt, in New Jersey. Und die Port Authority macht ihr Hauptgeschäft mittlerweile mit Immobilien und Grundstücken – unter anderem dem World Trade Center.
Mikael läuft Richtung Subway und zieht noch einmal sein Handy aus der Tasche. Endlich das Freizeichen.
»Syana, ich hab’s. Ich weiß jetzt, was ich mache. Ich hör auf mit den Fotos. Die bringen es nicht.«
»Und was machst du stattdessen? Kellnern?«
»Nein, ich mach einen Film.«
»Warum denn das?«
»Im Prinzip mache ich ja jetzt schon nix anderes. Ich suche lauter Drehorte zusammen, und da wird dann immer die gleiche Szene gespielt: Ich
Weitere Kostenlose Bücher