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IRA. Inzwischen sollen in ganz Großbritannien rund vier Millionen Überwachungskameras in Betrieb sein. Der Presse erklärt der begeisterte Bloomberg, mehr Kameras würden mehr Sicherheit vor Terroranschlägen bedeuten. Schließlich, so seine Argumentation, hätten die Bilder der zwölftausend in der Londoner U-Bahn montierten Kameras zur Identifikation des Attentäters von 2005 geführt. »Wollen Sie sich nicht sicher fühlen?«, so die rhetorische Frage von Bloomberg an die versammelten Reporter. Doch London setzt nicht nur auf herkömmliches CCTV. Für die olympischen Spiele 2012 plant die Polizei auch den Einsatz von Drohnen.
Mikael ist auf dem Weg zur New York Civil Liberties Union. Das Büro ist in Downtown, am südlichen Ende des Financial District. Er hofft, dort ein paar interessante Gesprächspartner zu treffen. Beeindruckt bleibt er vor dem Nachbargebäude stehen. Zweiundzwanzig Geschosse, erbaut 1968. Gemauerte Fassade, massige Stützpfeiler, Fenster wie Schießscharten. Ein Hochhaus wie ein Bunker – Verteidigungsarchitektur. Es ist eine Bank: J. P. Morgan Chase & Co.
New York. 16. September 1920. Der erste mobile Sprengstoffanschlag der Terrorismusgeschichte. Amerikanische Anarchisten führen einen Anschlag auf das Bankhaus J. P. Morgan aus. Ihre Pferdekarrenbombe tötet achtunddreißig Menschen und verletzt über hundert weitere.
Inzwischen beugt man vor, insbesondere die Wall Street wird gegen Terrorakte geschützt. »Mehr Sicherheit« lautet die Devise. Mehr Kameras, mehr Polizei, mehr Wachleute.
An vielen Straßen gibt es Sicherheitsschleusen für Fahrzeuge: Eine erste Straßensperre öffnet sich, das Fahrzeug fährt ein. Die Sperre wird wieder geschlossen. Auf Sprengstoff trainierte Hunde werden am Fahrzeug vorbeigeführt. Eine zweite Sperre öffnet sich, das Auto kann herausfahren.
Es gibt Sperren, die aus dem Boden hochgeklappt werden, und Sperren, für die man große Drehscheiben in den Asphalt eingelassen hat. In den Stoßzeiten der An- und Ablieferung bilden sich vor den Kontrollpunkten kleine Staus.
Tatsächlich schlug der jüngste Anschlag in New York 2010 fehl: Der mit Sprengstoff gefüllte Van auf dem Times Square wurde entdeckt, der Täter zu lebenslanger Haft verurteilt.
Mikael betritt das Foyer des Hochhauses, in dem sich die Civil Liberties Union eingemietet hat. Den Report Who’s watching? mit aktuellen Kartierungen von Überwachungskameras hat er sich bereits von der Website heruntergeladen. Bei der Sicherheitskontrolle am Eingang werden seine Personalien aufgenommen, es wird überprüft, ob Mikael als Besucher angemeldet ist.
Fehlanzeige.
Ohne Termin kann er die Sicherheitskontrolle nicht passieren. Auch die Kritiker sind Teil des Systems.
Faulhaber, Christoph. Deutscher Künstler (geboren 1972). Führte von 2002 bis 2006 gemeinsam mit Lukasz Chrobok die fiktive Sicherheitsfirma Mister Security, die den BND und die amerikanische Botschaft observierte. Mehrmals wurde er in der Ausübung seiner künstlerischen Arbeit von der Polizei behindert, seine Fotos wurden sogar beschlagnahmt. Es folgten polizeiliche Ermittlungen und gerichtliche Auseinandersetzungen. Auch wenn Faulhaber keine Straftaten beging, geriet er wegen dieser Aktivitäten auf die US-amerikanische Liste für Terrorverdächtige. Dies führte letztlich zum Entzug des Stipendiums für einen New-York-Aufenthalt.
Das Shooting im Financial District verläuft wie erwartet. Mikael fotografiert mehrere Überwachungskameras. Dann spricht ihn ein Security-Mann an, fordert ihn auf, mit dem Fotografieren aufzuhören. Ohne große Widerrede löscht er die Bilder von der Kamera.
Mikael zieht weiter, fotografiert andere Kameras an anderen Gebäuden. Er dokumentiert die Überwachung an den architektonischen Highlights: am Empire State Building, am ehemaligen PanAm Building von Walter Gropius, am UN-Gebäude von Le Corbusier. Im Netz recherchiert er, welche Firmen und Institutionen in den jeweiligen Gebäuden ihren Sitz haben, wie viel Umsatz sie machen und wie viele Leute in den Gebäuden arbeiten.
Er fotografiert rund hundertzwanzig Kameras und ihre Umgebung. Die Wand seines Ateliers ist mit den Fotos und den dazugehörigen Daten und Statistiken übersät. Doch irgendwie wiederholt sich alles. Manchmal kommt die Security, manchmal nicht. Die Gespräche ähneln sich, die Statistiken auch. Es passiert nichts Neues, außer dass immer mehr Fotos von Überwachungskameras auf seiner Festplatte im Rucksack gespeichert werden.
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