1WTC
Jennifer. Die kennst du nicht. Noch nicht. Aber du wirst sie kennenlernen, wenn wir den ersten Dreh haben, irgendwann in den nächsten Tagen.«
»Wie wär’s mit morgen? Hat deine Jennifer dann Zeit? Wir machen den ersten Take gleich am UN-Gebäude, oder? Ich bin schon gespannt. Auf deinen Film und auf diese Jennifer.«
Mikael zieht sich an, Syana liegt noch im Bett.
»Was willst du mit deinem Film eigentlich erreichen? Ich meine, Videoüberwachung ist doch nicht alles. Bei Überwachung geht es heute um die Spuren, die man im Alltag hinterlässt. Deine digitalen Spuren ergeben ein viel schärferes Profil als Videoaufnahmen. Das kannst du in einem Film überhaupt nicht darstellen.«
»Natürlich ist das nur symbolisch, aber wenn wir zeigen, dass wir in einer Sicherheitsdiktatur leben, dann … dann ist doch auch schon viel erreicht. Man muss eben auf bestimmte Themen aufmerksam machen und die alltägliche Wahrnehmung verschieben.«
»Du bist ja schnell zufrieden.« Syana grinst, spöttisch und wohlwollend zugleich.
»Und wie willst du sonst was bewegen? Etwa mit einem Spiel?«
»Klar. Und mit der Macht der Realität. In meinem Spiel geht es nämlich um Realität. Bei dir nur um Fiktion. Das ist der Unterschied.«
Mikael zeigt auf die verschiedenen Spielkonsolen, die in Syanas Regalen herumliegen. »Das ist Realität?«
»Ja, für die Menschen, die spielen, ist das Realität. Genauso wie die Welt da draußen, das Leben auf der Straße, das du abfilmst. Nur dass du diese Realität in ein Kunstwerk sperrst, das man sich am Ende in einer Ausstellung ansehen kann. So what? Was bewirkst du denn damit außerhalb des Kunstsystems? Dass du noch ein Stipendium bekommst? Toll für dich. Dass vielleicht ein Sammler deine Arbeiten kauft? Glückwunsch. Aber das verändert doch nichts. Durch Kunst änderst du nichts, sondern stabilisierst nur die bestehenden Verhältnisse.« Syana schaut Mikael auffordernd an. »Ich will die Realität verändern. Action, Action, Action. Nur so erreichst du Veränderung! Widerstand beginnt, wenn die Überwachten sich gegen die Überwachung auflehnen.«
»Und das willst du ausgerechnet mit einem Spiel erreichen?«
»Ja, am Anfang ist es ein Spiel. Dann überschreitet es eine Grenze und wird Wirklichkeit. Egal. Du wirst schon sehen. Früher, als du denkst.« Syana steht auf und nimmt Mikael in den Arm, zärtlich streichelt sie seinen Oberkörper.
»Spielst du eigentlich auch mit mir?«
»Ach Mikael.« Syana gibt ihm einen Kuss. »Du bist niedlich. Natürlich spiele ich mit dir …« Syana lächelt. »Am liebsten Fesselspiele.«
Ihre Hände tasten sich zum Reißverschluss seiner Hose vor.
Schon am Nachmittag beginnen Mikael und Syana mit den Vorbereitungen für den Dreh. Die erste Szene will Mikael direkt vor dem Trump World Tower drehen, damit im Hintergrund die berühmte Hochhausscheibe der Vereinten Nationen auftaucht. Erst die zweite Szene soll mit einer der Kameras aufgenommen werden, die den Eingang des UN-Komplexes überwachen. Syana scannt die Kameras der Gegend, um die zu identifizieren, die ihre Bilder per Funk übertragen. Alles ist bereit, am nächsten Morgen wollen sie anfangen.
Pünktlich um neun erscheint Jennifer vor dem Eingang des UN-Gebäudes. Syana sitzt mit dem elektronischen Equipment in ihrem Auto, das sie wenige Meter entfernt geparkt hat. Von dort kann sie alle Daten auf einen Server außerhalb der USA überspielen.
Syana begutachtet Jennifer aus der Ferne. Nicht schlecht. Ein bisschen bieder, aber trotzdem sexy. Sie sieht, wie die beiden sich zulächeln. Die zärtlichen Gesten versetzen ihr einen kleinen Stich. Dabei war die Geschichte mit Mikael doch eigentlich nur als kleiner Zeitvertreib gedacht. Gute Gespräche und guter Sex. Und Teil der Strategie.
Jennifer posiert vor der Kamera, damit Syana die Technik überprüfen kann. Das schnurlose Mikrofon funktioniert, die Bildqualität ist gut. Es geht los.
Der Blick der Überwachung. Weitwinkel von oben.
Digitale Bilder in schlechter Auflösung, schwarz-weiß.
Am unteren Bildrand eine Textzeile, links steht »Main Entrance«, rechts die Uhrzeit und das Datum.
Das Bild zeigt einen Bürgersteig und einen Teil der Straße. Im Hintergrund eine Hochhausscheibe (das UN-Hauptquartier in New York).
Eine Frau von hinten. Lange blonde Haare, enge Jeans und ein dünnes weißes T-Shirt. Jennifer. Sie geht den Bürgersteig entlang, bleibt stehen, ein Bein gestreckt, das andere leicht angewinkelt. Die Hände an den
Weitere Kostenlose Bücher