2 Heaven
Warum war sie noch nicht früher auf die Idee gekommen, seine Geschichten zu lesen? Fasziniert starrte sie auf die Sätze, die Worte, die Abgründe, die sich vor ihren Augen auftaten. Bis ein Geräusch sie hochschrecken ließ. Cris hatte die Tür geöffnet und trat langsam ein. Er hatte sofort bemerkt, dass er nicht allein war.
Abwartend blieb er stehen.
„Hallo, Crispin", sagte Charlotte und stand auf.
„Charly." Sein Gesicht verriet keine Gefühlsregung. „Was machst du hier?"
Sie trat dicht an ihn heran. Jetzt musste sie es versuchen. „Was ist dein Problem, Crispin Heaven?", fragte sie forsch. Er zog die Augenbrauen nach oben und versuchte nach hinten auszuweichen. Sie war ihm zu nah, viel zu nah. Er räusperte sich. „Was meinst du?"
„Ich habe in dem Text gelesen, an dem du gerade arbeitest ..." „Das schätze ich nicht besonders", unterbrach er sie leise. „Ich habe diese eine Stelle gelesen - die du zum Schluss geschrieben hast ..."
„Und?" Er versuchte wieder, ihrer Nähe zu entkommen, doch sie ließ ihn nicht weg. Was wollte sie von ihm?
„Das bist du da drin, nicht wahr? - Du versuchst, nur in deinen Geschichten zu leben." Sie sprach leise und eindringlich. Es war ein Versuchsballon. Sie musste es einfach tun.
Aber Crispin ließ sich nicht einschüchtern. „Und - wenn es so wäre?"
„Dann möchte ich wissen, warum? Du tust weder dir noch deiner Umwelt einen Gefallen damit. Warum lässt du niemanden an dich heran?" Sie sah, wie sich eine steile Falte zwischen seinen Augenbrauen bildete. Die Wut stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. „Ist das nicht meine Sache?"
„Nein, ist es nicht", sagte sie entschieden. „Du weißt, dass ich dich mag. Aber du hast dir anscheinend vorgenommen, das Alter Ego deines Bruders zu werden. Damit zerstörst du dein Leben, Crispin."
„Charlotte." Er betonte jede Silbe. „Wenn du in meinen Bruder verliebt bist, dann hör' auf mich zu quälen. Du sagst, ich sei das Alter Ego von Dämon? Na gut, wenn dir die andere Seite besser gefällt, dann tu dir keinen Zwang an. Und - hör auf mich zu analysieren. Ich brauche, verdammt nochmal, keine Therapie. Und Leute, die in meinen Sachen herumschnüffeln, brauche ich schon gar nicht. Ich bin halt ein kreativer Mensch: Ich mache keine Musik mehr, jetzt schreibe ich eben - na, und?"
Charlotte kochte. Sie wusste, dass sie eine gute Psychologin und eine attraktive Frau war, aber bei Crispin Heaven biss sie auf Granit. Und genau das konnte sie nicht akzeptieren. Sie versuchte, sich zu beruhigen. Mein Gott, wo war ihre Professionalität? Warum versagte sie immer bei diesem Mann? „Cris ..."
„Raus!" Nur dieses eine Wort, nicht einmal besonders heftig ausgesprochen, doch es tat seine Wirkung.
„Manchmal hasse ich dich, Crispin Heaven", fauchte sie und verließ sein Zimmer. Das war gründlich in die Hose gegangen.
Sie hätte besser auch den Rest des Textes gelesen, dachte Cris ärgerlich.
Wieder einmal war sie vom Anwesen der Heavens geflohen, und wieder einmal kam sie sich unbeholfen und unprofessionell vor, als sie zu Hause in ihrer Wohnung saß. Sie hatte mit Anne telefoniert und einige wichtige gedankliche Anstöße erhalten. Warum war sie selbst nicht darauf gekommen? Sie schien diesem Fall nicht gewachsen, war natürlich selbst emotional viel zu sehr darin verstrickt. Wahrscheinlich durfte sie das Ganze auch nicht als Fall betrachten. Dazu kam, dass sie sich schon während ihres Studiums mehr mit Personalberatung als mit Tiefenpsychologie befasst hatte. Letzteres war auch nicht besonders gefragt, wenn man im Bereich der Unternehmensberatungen Karriere machen wollte. Sie musste unbedingt noch einmal mit Dämon sprechen. Es war noch früh am Abend - vielleicht hatte er noch nichts vor. Charly war überzeugt davon, dass Dämon ihr hilfreiche Hinweise geben konnte - wenn er bereit war, darüber zu reden. Wenn er bereit war, über seinen Bruder zu sprechen. Sie wusste, dass sie sich auf dünnem Eis bewegte - immerhin begehrte Dämon sie. Und sie Dämon. Aber es musste doch möglich sein, ihn irgendwie zu überzeugen ... Gut, dass sie seine Handynummer hatte.
Nach dem zweiten Klingeln meldete er sich bereits. „Ja?"
„Dämon? Hier ist Charly."
„Hi. Was kann ich für dich tun?"
„Können wir uns heute Abend noch treffen? Ich kenne da ein nettes Restaurant im asiatischen Viertel."
„Hm ... erfahre ich dann auch, was Cris so verärgert hat?", fragte Dämon zurückhaltend.
Sie hielt den Atem an.
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