2 ½ Punkte Hoffnung
das hier rausschmuggeln?«, fragte er und steckte den Kopf wieder in den Schrank.
»Ich habe da so meine Methoden.«
Tylers Kleider lagen sicher in meinem Schrank versteckt, und ich machte mich wieder an die Arbeit für den Test. Mir schauderte, als ich mich fragte, ob ich Anne Franks verstecktes Gefängnis und die dauernde Angst vor der Entdeckung hätte ertragen können, die Sehnsucht nach einem frischen Atemzug, das Verlangen nach etwas anderem als Kartoffeln und Bohnen. Ich überflog die Seiten und konnte Annes Frustration über die gemeinen Worte ihrer Mutter, die Sehnsucht nach Freunden, das tödliche Schweigen absolut nachvollziehen.
Am Montagmorgen fuhr ich endlich wieder mit dem Bus. Es war nur eine Woche gewesen, aber mir ist es vorgekommen wie eine Ewigkeit. Ich schleppte Tylers alte Sporttasche und meinen Ranzen in die Busmitte. Dann ließ ich den Kram neben einem freien Fenster fallen und setzte mich auf den Plastiksitz. Tyler wurde langsamer, als er auf dem Weg zu den anderen Highschoolleuten hinten im Bus vorüberkam. Er beäugte seine alte Tasche. »Was klauste’n da?«, raunte er ziemlich laut.
»Tyler!« Ich runzelte die Stirn. »Du kriegst nix ab.«
»Dann verpetz ich dich.«
»Nein, das tust du nicht.«
Noelle Laslett stieg an der nächsten Haltestelle ein, setzte sich neben mich und öffnete augenblicklich ihre Jacke. »Den Overall hab ich von So Gut Wie Neu .«
»Guter Fund«, fand ich.
»Nur fünf Dollar mit meinem Gutschein.« Sie grinste.
Und dein Gutschein hat mir geholfen, meine Stiefel zu kaufen,
dachte ich und bewegte sie ein wenig auf der Gummimatte: Hacke, Spitze, Hacke, Spitze. Dabei stieg ich den Lava Butte hoch.
Ich hielt den Atem an, als Mr. Hudson den Text verteilte. Das Blatt war umgedreht und stumme Fragen verlangten schon jetzt, dass ich mich erinnerte.
»Ihr habt zwanzig Minuten«, sagte er.
Ich rechnete mit falsch/richtig, mehreren vorgeschlagenen Antworten, füllt die Leerzeile aus, aber hier stand nur eine einzige Frage.
Wie lässt die folgende Geschichte sich zum Holocaust in Beziehung setzen? Ein Frosch hüpft in einen Topf mit kochendem Wasser und springt gleich wieder heraus. Ein zweiter Frosch springt in einen Topf mit kaltem Wasser, das langsam immer heißer wird. Dieser Frosch passt sich der wachsenden Hitze an, bis das kochende Wasser ihn tötet.
Für einen Moment wurde mir wegen des toten Froschs ein wenig schlecht, dann wanderten meine Gedanken zurückzu Guido, Dora und Giosué, und ich erinnerte mich daran, wie sie sich an die Soldaten an jeder Straßenecke und an die Läden gewöhnt hatten, in denen für Juden und Hunde der Zutritt verboten war. Ich dachte an Anne Franks lange Liste der verbotenen Dinge, und doch hatte sie geschrieben: Es war noch erträglich. Ich konnte mich an ihre Worte erinnern, weil ich mir selbst ähnliche Dinge gesagt hatte – eingeschlossen in meinem Zimmer, wenn ich im Notizbuch mit den Punkten schrieb, wenn ich auf dem Bett lag, um mir einzureden, dass alles in Ordnung war. Jetzt schaute ich aus den Fenstern des Klassenzimmers auf die offenen Wiesen und den weiten blauen Himmel. Ich dachte noch eine Minute nach, dann fing ich an zu schreiben.
Als ich fertig war, war ich total erschöpft, aber dann kam mir wieder Anne Frank in den Sinn, die eine Million Gedanken über die Wirklichkeit niedergeschrieben hatte – keinen Test von zwanzig Minuten, sondern einen Rund-um-die-Uhr-Test. Einen Überlebenstest. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich müde war.
Nachdem Mr. Hudson die Blätter eingesammelt hatte, teilte er unsere Zeichnungen aus. Ich krümmte in meinen Stiefeln die Zehen und streckte sie wieder aus. Krumm. Locker. Das Warten brachte mich um. Endlich blieb Mr. Hudson neben meinem Tisch stehen und sagte: »Bitte, seht, wieviel Sorgfalt in diese Zeichnung eingeflossen ist.« Er hob mein Konzentrationslagerbild für die ganze Klasse hoch. Dann, nur zu mir, sagte er leise: »Der Rosenstrauch gefällt mir.« Er legte meine Zeichnung vorsichtig auf meinen Tisch wie eine Königskrone.
A+
.
Was für ein wunderschöner Buchstabe. Diese feinen geraden, gleichmäßigen Striche, die sich oben begegnen, auf dem Gipfel.
Und der Preis. Das + . Die Flagge oben auf dem Berggipfel.
KAPITEL 16
Gebirgszüge
Das ist der Nachteil beim Bergsteigen: Du musst wieder runterkommen. So ging es mir mit meinem Leben. Auf und ab. Oben und unten. Ein Berg nach dem anderen. Das erinnert mich an diese Zickzacklinien
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