2 - Wächter des Tages
»Wenn die Schritte des Dunklen insgesamt nicht vorauszusehen waren, heißt das dann, dass er intuitiv gehandelt hat? Nichts vorab geplant oder gedanklich durchgespielt hat?«
»Darauf läuft es hinaus«, bestätigte Geser ihr. »Er schafft lieber neue Wahrscheinlichkeiten, als eine der existierenden zu wählen. Das ist eigentlich ein mutiges Vorgehen, aber auch nicht ganz ungefährlich. Sein Instinkt kann ihn im Stich lassen. Genau in dem Moment müssen wir zuschlagen.«
Kurz hing Stille im Raum. Semjon ging lautlos durchs Arbeitszimmer und setzte sich aufs Sofa, etwas abseits von Anton und Swetlana.
»Aber an sich beschäftigt mich etwas andres.« Geser kramte mit finsterer Miene eine Schachtel Pall Mall aus seiner Tasche. Verwundert betrachtete er sie, steckte sie dann zurück und zog eine Havanna in einem Blechtubo, eine Schere zum Abschneiden des Endes und ein riesiges Tischfeuerzeug aus der Tasche. Doch die Zigarre packte er nicht aus. »Etwas ganz andres.«
»Dass der Dunkle so problemlos die Energie aus dem Portal und teilweise auch von Swetlana genutzt hat?«, vermutete Semjon sofort. »Das war doch zu erwarten.«
»Wie das?«, hakte Geser nach.
Semjon zuckte die Schultern. »Meiner Ansicht nach ist er noch stärker, als wir annehmen. Er tarnt sich einfach. Im Prinzip sind Ilja und ich, ja, sogar Garik in der Lage, uns die Kraft der Dunklen zunutze zu machen. Unter bestimmten Voraussetzungen. Und mit bestimmten Folgen für uns selbst.«
»Aber nicht so dreist und nicht so schnell.« Geser schüttelte den Kopf. »Erinner dich an Spanien. Als Awwakum versucht hat, aus einem dunklen Portal Kraft zu schöpfen. Du weißt doch noch, wie das endete?«
»Ja«, meinte Semjon ungerührt. »Aber das heißt nur, dass unser Dunkler bedeutend stärker ist als Awwakum. Mehr nicht.«
Geser sah Semjon einige Sekunden an, schüttelte zweifelnd den Kopf und richtete den Blick dann auf Swetlana. »Sweta«, erkundigte er sich mit wesentlich sanfterer Stimme, »versuch noch einmal, dich an alles zu erinnern, was du in dem Moment gespürt hast. Lass dir Zeit. Und mach dir bitte keine Sorge. Du hast alles richtig gemacht, das Problem ist nur, dass es nicht gereicht hat.«
Semjon sah Sweta mit dem Blick eines Menschen an, der das Interessanteste verpasst hatte. »Was soll das heißen - versuch es noch einmal? Du brauchst bloß das Bild zu produzieren, mehr nicht«, riet er ihr.
»Das gelingt ihr nicht«, brummte Geser. »Darin besteht ja das Problem. Es kommt nur Mist heraus, kein Bild.«
»Hast du mal versucht, ein andres Bild zu erschaffen?«, wollte Semjon interessiert wissen. »Ein abstraktes, das nicht mit dem Dunklen verbunden ist?«
»Ja«, antwortete Geser für Swetlana. »Bei einem andren klappt es. Nur bei diesem nicht.«
»Hm«, murmelte Semjon. »Kann es daran liegen, dass die Eindrücke zu grell und bedrückend sind? Ich erinner mich noch, wie ich zwanzig Jahre lang versucht habe, das Bild eines Inferno-Strudels über dem Reichstag zu rekonstruieren, während Hitler eine Rede hielt. Es wollte mir einfach nichts Überzeugendes gelingen...«
»Es geht nicht darum, ob das Bild überzeugend ist«, entgegnete Geser. »Sie kann überhaupt keins herstellen. Nur einen grauen Nebelschleier, als ob Swetlana versuchen würde, sich an die Welt des Zwielichts zu erinnern.«
Anton, der nach wie vor kein Wort gesagt hatte, schaute Sweta hoffnungsvoll an.
»Also noch mal«, begann sie. »Zunächst habe ich überhaupt nichts bemerkt. Während dann Sie, Boris Ignatjewitsch, den fliehenden Regin-Bruder verfolgt haben, bin ich beim Portal geblieben. Dann habe ich bemerkt, dass die Dunklen auf dem Boden sich bewegten, und Ihr magisches Netz neu aufgeladen. Daraufhin wurden die Dunklen wieder zu Boden gedrückt. Dann sind Sie zurückgekommen. Und fast unmittelbar danach fiel ich in eine Art Ohnmacht. Mir wurde schwarz vor Augen, ich fühlte mich schwach ... Und da war ein Abgrund. Ich kam am Boden wieder zu mir, als Anton mir Wasser ins Gesicht spritzte. Wenn ich mich anstrenge, steigen einzelne Erinnerungen in mir auf... Aber das Ganze vermag ich nicht zu rekonstruieren.« Die Zauberin biss sich auf die Lippe, sie schien kurz davor, in Tränen auszubrechen. Anton sah sie an, als hoffe er, sie allein durch seinen Blick zu beruhigen.
»Ich kann keine vernünftige Erklärung dafür finden«, ließ sich Ilja vernehmen. »Es gibt nichts, worauf wir uns stützten könnten. Wir haben zu wenig Daten.«
»Wir haben mehr als genug
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