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2 - Wächter des Tages

2 - Wächter des Tages

Titel: 2 - Wächter des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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anscheinend nervös.
    Ich wollte schon aufstehen, als Geser zurückkam. Er zerfloss in weißem Licht wie ein Engel in der Vorstellung der Idyllenmaler. Mit einer Hand hielt er den reglosen und gefügigen Wikinger, der hatte fliehen wollen, an der Schulter fest. Ein Schritt, noch einer - und er ließ den Wikinger los, der wie eine Lumpenpuppe neben seinen Gefährten zu Boden fiel. Doch statt Freude las ich im Gesicht Gesers etwas andres.
    »Wo ist die Kralle?«
    Er sah die Zauberin kurz an. Die zog besorgt den Kopf ein. Sofort spürte ich, wie sie uns alle auf einmal scannte.
    Nein, Mädchen. Meinen Kokon durchdringst du nicht!
    Selbst Geser wird ihn nicht durchdringen. Das kann ich euch mit Sicherheit sagen, von der Höhe meiner nächsten Stufe aus.
    Geser kam jedoch, ohne Zeit zu verlieren, auf mich zu. »Schon wieder du...«
    In seiner Stimme entdeckte ich keinen Hass. Nur eine grenzenlose Müdigkeit.
    Ich stand auf und klopfte aus irgendeinem Grund meine Kleidung ab. »Ja.«
    »Du verblüffst mich«, gestand Geser, während er meine Person mit seinem Blick durchbohrte. »Verblüffe mich noch einmal! Gib die Kralle zurück!«
    »Die Kralle?« Ausdrucksvoll zog ich eine Braue hoch. »Wovon redest du, Kollege?«
    Geser presste die Lippen zusammen. Ich sah deutlich, wie seine Kiefermuskeln in den Wangenknochen mahlten.
    »Genug mit dieser Komödie, Dunkler. Du hast die Kralle, sonst kann sie nirgends sein. Ich spüre sie nicht mehr, aber das ändert nichts, jetzt gibst du mir die Kralle und - ich wiederhole es noch einmal - verschwindest für immer aus Moskau. Und merk dir eins: Du bist der Erste, den ich zweimal friedlich auffordere zu verschwinden. Der Erste seit sehr, sehr vielen Jahren. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
    »Mehr als klar«, murmelte ich, während ich meine Kräfte abwog und zu der Überzeugung gelangte, dass ich mich auf das Spiel einlassen konnte.
    In Gedanken streckte ich mich nach der nichts Böses ahnenden Zauberin aus, schöpfte aus ihr so viel Kraft wie möglich, ohne dass sie etwas davon bemerkte, und nahm mir noch mehr aus dem Portal. Das alles so schnell, wie es schneller nicht ging.
    Dann öffnete ich mein eigenes Portal. Direkt unter mir. Gleichzeitig trat ich aus dem Zwielicht heraus.
    Wenn ich auf einem Gullideckel gestanden hätte und der Deckel urplötzlich verschwunden wäre, hätte das einen ähnlichen Effekt gehabt. Ich stürzte einfach hinab - für Geser und die Übrigen. Stürzte hinab und verschwand.
    Von Geser hatte ich nicht gewagt, Kraft zu nehmen. Etwas hatte mir gesagt: Momentan brauchst du dich nicht mit ihm zu messen. Du hast einen Kokon geschaffen, durch den Geser nicht ohne Vorbereitung hindurchblicken kann. Du hast aus der Zauberin, die wahrscheinlich eine Große Magierin wird, Energie gesaugt - das ist ein klarer Lausbubenstreich, der nur einmal glückt. Aber es auf eine offene Auseinandersetzung mit dem Chef der Nachtwache anzulegen - dazu ist es noch zu früh für dich, Witali Rohosa, Anderer, Dunkler.
    Sag lieber danke, dass du mit heiler Haut davongekommen bist.
    Ich sagte »danke« und stürzte aus der Höhe von mehreren Metern in eine Schneewehe. Um mich herum war alles dunkel. Fast dunkel. Nur der Mond hing über meinem Kopf. Und zu beiden Seiten erstreckte sich Wald.
    Ich befand mich in einer Schneise, einer schnurgeraden, genau wie der Lenin-Prospekt in Nikolajew. Eine fünfzehn Meter breite Straße. Links eine Waldwand, rechts eine Waldwand, vor mir, über dem silbrigen Streifen unberührten Schnees, der Mond. Ein fast voller Mond.
    Das war schön, unglaublich schön - eine Mondschneise, die Nacht, der Schnee ... Ich hätte mich nach Herzenslust daran ergötzen können.
    Doch ich begann zu frieren.
    Nachdem ich mich mehr schlecht als recht aus der Schneewehe herausgearbeitet hatte, sah ich mich um. Der Schnee blieb weiterhin unberührt. Doch irgendwo in der Ferne machte ich das typische Gerassel von Rädern einer Vorortbahn aus.
    Na toll. Was bin ich bloß für ein miserabler Magier. Ein wahrer Meister der Portale. Ein Portal öffnen, das kann ich. Aber wohin es mich brachte, daran dachte ich nicht. Nun hatte ich also die Bescherung: Allein stand ich da, nur in einem beklagenswerten Pullover (soll heißen ohne Jacke und Mütze) mitten im winterlichen Wald.
    Wütend auf mich selbst tastete ich nach dem länglichen und harten Ding unter meinem Hemd und entschied, den Kokon noch beizubehalten, während ich dem Mond entgegenging. Auf der makellosen

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