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2 - Wächter des Tages

2 - Wächter des Tages

Titel: 2 - Wächter des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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später mit der vollen Strenge des Großen Vertrages zur Verantwortung gezogen.«
    Die Anwesenden erhoben sich. Sowohl die Dunklen wie auch die Lichten. Die Wächter des Tages und der Nacht sowie die Angehörigen des Gerichts. Geser wie Sebulon, von dem alle gedacht hatten, er sei nicht in Moskau. Der Inquisitor Maxim und zwei Beobachter der Inquisition, die in graue Kittel gehüllt waren. Alle, die sich in dem kleinen Nadelturm des Hauptgebäudes der Lomonossow-Universität versammelt hatten. Ein kleiner fünfeckiger Raum lag als unsichtbare Zwielicht-Etage über dem Museum für physikalische Geographie und diente ausschließlich den seltenen Sitzungen des Tribunals der Inquisition. In den Nachkriegsjahren waren recht viele Zwielicht-Räume gebaut worden - das war billiger als die ständigen Auseinandersetzungen mit der Staatssicherheit und der Miliz, die ihre Nasen permanent in Angelegenheiten steckten, die sie nichts angingen. Es ließ sich schön beobachten, wie im Osten die Sonne am Horizont mit einem purpurroten Leuchten aufging und mit jeder Minute die zauberhaften Lichter verblass-ten, die seit dem Konzert von Jean-Michel Jarre anlässlich des Moskauer Stadtjubiläums über dem Gebäude der Universität tanzten. Die Anderen würden die Spuren der Lasershow noch lange genießen können, sogar ohne ins Zwielicht einzutreten, wo alle Farben verblassten und verschwanden. Damals hatten viele Menschen begeistert die wundervolle Show verfolgt und ihre Gefühle ins Zwielicht versprüht.
    Maxim, der einen gewöhnlichen Geschäftsanzug trug und keinen Kittel wie die übrigen Inquisitoren, entrollte mit einer Geste im Zwielicht eine graue Leinwand, die mit lodernden roten Buchstaben übersät war. Drei Dutzend Stimmen hoben an zu lesen: »Wir sind die Anderen. Wir dienen unterschiedlichen Kräften. Doch im Zwielicht besteht kein Unterschied zwischen dem Fehlen des Dunkels und dem Fehlen des Lichts...«
    Die riesige Stadt und das riesige Land ahnten nicht, dass fast alle, die das Schicksal Russlands bestimmen, sich jetzt hier versammelt hatten, nicht im Kreml. In dem vernachlässigten kleinen Kämmerchen unter der Turmnadel des Universitätsgebäudes, wo man inmitten des lange angesammeltenen Stau-bes Stühle, leichte Sessel, sogar Liegestühle aufgestellt hatte -' was immer mitzubringen jemand der Mühe wert befunden hatte. Um einen Tisch hatte sich dagegen niemand gekümmert - und es gab auch keinen.
    Die Anderen schätzen billige Rituale nicht sehr: Ein Gericht - das ist ein Prozess, keine Prozession. Deshalb fehlte jedes
    Ornat, Perücken und Tafeltuch. Nur die grauen Kittel der
    Beobachter, doch niemand erinnerte sich noch genau daran, warum die Inquisitoren manchmal diese Gewänder trugen.
    »Wir begrenzen unsere Rechte und unsere Gesetze. Wir sind
    die Anderen...«
    Die purpurroten Buchstaben des Vertrages brannten im
    Halbdunkel, Sinnbild der Wahrheit und Rechtsprechung.
    »Wir sind die Anderen ...« Drei Dutzend Stimmen. »Die Zeit
    wird für uns entscheiden.«
    Der Große Vertrag war verlesen, nun konnte das eigentliche
    Tribunal beginnen. Der Tradition zufolge mit den am
    wenigsten gravierenden Fällen.
    Der Richter, einer der in einen Kittel gehüllten Inquisitoren, verkündete, ohne sich von seinem Drehhocker auf Rollen zu
    erheben, in einem völlig unfeierlichen, absolut alltäglichen
    Ton: »Fall eins. Wilderei durch die Dunklen. Man führe die
    Schuldige herein.«
    Nicht die Verdächtige, sondern die Schuldige. Die Schuld ist
    bereits bewiesen. Die Zeugen helfen nur die Tatumstände und
    das Maß der Schuld zu bestimmen. Dann spricht das Gericht
    sein Urteil. Unerbittlich und gerecht.
    »Bedauerlicherweise sind nicht alle Zeugen anwesend. Es
    fehlt Witali Rohosa, Anderer, registriert in Nikolajew, Ukraine, und zeitweilig registriert in Moskau; der Grund seines Ausbleibens ist nicht bekannt. Ferner fehlen Andrej Tjunnikow und Jekaterina Sorokina, die im Zusammenhang mit Fällen gestorben sind, die später verhandelt werden.«
    Das Urteil war kurz und hart. »Viktoria Mangusowa, Andere, Dunkle, registriert in Moskau, wird des Rückfalls in nicht lizenzierte Jagd für schuldig befunden. Sie wird zur Dematerialisa-tion verurteilt. Gibt es Einwände oder Ergänzungen seitens der Wächter des Tages und der Nacht zu diesem Urteil?«
    Es gab keine Einwände auf Seiten der Dunklen und natürlich schon gar nicht auf Seiten der Lichten.
    »Das Urteil wird unverzüglich vollstreckt«, erklärte der Inquisitor. Er sah

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