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2 - Wächter des Tages

2 - Wächter des Tages

Titel: 2 - Wächter des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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erkannten bei der allgemeinen atheistischen Einstellung im Land die Menschen nur mit Mühe den Anderen in sich. Igor hatte sein Wesen leicht und voller Freude akzeptiert. Ihm schien es relativ egal zu sein, was er tat - mit dem Fallschirm im Rücken der Faschisten abzuspringen und Brücken in die Luft zu sprengen oder in Moskaus Straßen Vampire und Tiermenschen zu jagen. Solide dritte Kraftstufe, mit gewissen Chancen, sich weiterzuentwickeln, doch auch die dritte Stufe war bereits nicht wenig, wenn sie mit Erfahrung, Kühnheit und einem guten Reaktionsvermögen einherging.
    Igor besaß all das im Übermaß. Höchstens an Erfahrung mangelte es ihm noch, aber manches Jahr seiner Arbeit in der Wache konnte durchaus für drei zählen. Vielleicht war er nicht so belesen und versiert wie Ilja oder Garik, hatte nicht an so vielen beeindruckenden Operationen teilgenommen wie Semjon, aber »im Feld« waren ihm nur wenige ebenbürtig. Und noch etwas hatte Anton immer gefallen: Igor war jung geblieben. Nicht nur körperlich, was ohnehin kein Problem für einen Magier seines Grades darstellte, sondern auch seelisch. Wer sonst hätte fröhlich zugestimmt, die fünfzehnjährige Julja aus der analytischen Abteilung zu begleiten, um ins tiefste Tuschino zu fahren, wo die Band Tequila Jazz ihr neues Album Hundertfünfzig Milliarden Schritte vorstellte? Wer sonst würde sich hingebungsvoll um einen Teenager voller Komplexe kümmern, der festgestellt hatte, dass er ein Anderer war? Wer würde fünf Jahre lang begeistert extremes Fallschirmspringen betreiben, nur um jene Theorie gründlichst zu überprüfen, derzufolge der Anteil von Anderen unter Extremsportlern höher ist als anderswo? Wer sonst erklärte sich immer als Erster bereit, mit einem Kollegen den Dienst zu tauschen oder die langweiligsten Aufgaben (für die gefährlichsten fanden sich immer Freiwillige) zu übernehmen? Vielleicht machte Anton da einen Fehler, aber in letzter Zeit gelangte er immer häufiger zu der Überzeugung, dass es weit nützlicher sei, wenn ihm ein zuverlässiger und lebenslustiger statt eines starken und durch Erfahrung klug gewordenen Kollegen den Rücken deckte. Der starke und kluge Wächter konnte immer durch eine Aufgabe abgelenkt werden, die wichtiger war als die, ihm Rückendeckung zu geben ...
    Der Andere, der jetzt vor Anton stand, sah weder stark noch lebensfroh aus. Igor war enorm abgemagert, in seinen Augen lag eine stumme, farblose Sehnsucht. Und noch etwas: Er schien kaum zu wissen, wohin mit seinen Händen ... mal versteckte er sie hinterm Rücken, mal faltete er sie.
    »Anton ...«, sagte er schließlich. Ohne ein Lächeln, nur mit einem leichten Hauch von Freude. »Hallo, Anton.«
    Einem plötzlichen Impuls folgend, trat er an Igor heran und umarmte ihn. »Hallo, hallo ...«, flüsterte er. »Was machst du nur für Sachen...«
    Vitezslav stand neben der Tür. »Ich werde Sie nicht offiziell zur Einhaltung der Besuchsordnung gegenüber dem Verdächtigen ermahnen ... denn Sie sind beide Lichte«, sagte er leise. »Soll ich auf Sie warten, Gorodezki?«
    »Nein, danke.« Anton trat von Igor zurück, ließ aber die Hand auf seiner Schulter. »Ich komme allein zurück.«
    »Igor Teplow, die Sitzung des Tribunals zu Ihrem Fall findet morgen Abend statt, um sieben Uhr Ortszeit. Ein Auto wird sie um halb sieben abholen, halten Sie sich bereit.«
    »Ich halte mich schon lange bereit«, sagte Igor leise. »Keine Sorge.«
    »Alles Gute«, wünschte der Vampir freundlich und ging.
    Die beiden Lichten blieben allein.
    »Seh ich so erbärmlich aus?«, fragte Igor.
    Anton wollte nicht lügen. »Das kannst du laut sagen. Wie der Tod auf Beinen. Man könnte denken, du bekämst nur Wasser und Brot.«
    Igor schüttelte ernst den Kopf. »Nein, wie kommst du darauf. Die Bedingungen, in denen ich gehalten werde, sind normal.«
    Eine leichte Ironie schwang in seinen Worten mit. Als spreche er über ein Tier, das im Zoo im Käfig lebt.
    »Ich habe dir was mitgebracht«, antwortete Anton im selben Ton, in der Hoffnung, so den schwachen Lebensfaden zu erwischen. »Ist das Füttern erlaubt?«
    »Ja«, nickte Igor. »Ich habe nur einfach ... Mir bleibt jeder Bissen im Hals stecken, verstehst du? Ich lese keine Bücher, will nichts trinken, mit niemandem reden ... Ich stelle den Fernseher an und glotze ... bis drei Uhr nachts. Wenn ich morgens aufstehe, stelle ich ihn gleich wieder an. Kannst du dir das vorstellen? Ich habe sogar schon perfekt Tschechisch

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