2 - Wächter des Tages
ich zu. Falls ein offener Krieg zwischen dem Dunkel und dem Licht ausbricht, nicht nur eine Schlacht zwischen den Wachen, sondern ein regelrechter Krieg zwischen Dunkel und Licht. Wenn jeder Andere auf seiner Seite der Front steht... Doch ob die Inquisition dann noch nötig ist? Dann werden auch wir wieder einfache Andere ...« Er nickte. »Doch zu dieser Zeit existiert vermutlich schon gar keine Inquisition mehr«, fügte er schließlich hinzu. »Sie wäre untergegangen bei dem Versuch, eine solche Situation zu verhindern. Aber wir sind nicht sehr viele. Und das Verhalten einiger überlebender Anderer, die einst die Kittel der Inquisitoren getragen haben, würde nichts ändern.«
»Ich verstehe, was die Nachtwache veranlasst, den Vertrag einzuhalten«, sagte Anton. »Wir kämpfen für die Menschen. Und ich weiß, was die Tagwache antreibt, nämlich die Angst um sich selbst. Aber was bringt Sie, die Inquisitoren, dazu, gegen Ihr eigenes Wesen anzugehen?«
Vitezslav drehte ihm den Kopf zu. »Euch alle leitet nur die Angst, Anton Gorodezki«, sagte er leise. »Um euch selbst oder um die Menschen, das spielt keine Rolle. Aber uns leitet das Entsetzen. Deshalb halten wir den Großen Vertrag ein. Sie können wegen des Prozessausgangs beruhigt sein - es wird keine Unterstellungen geben. Wenn Ihr Kollege den Vertrag nicht verletzt hat, kann er Prag gesund und munter verlassen.« Gegen Abend ließ Edgars Verzweiflung etwas nach. Vielleicht hatte ihm das gute Essen in einem teuren Restaurant geholfen, samt einer Flasche erlesenen tschechischen Weins (nun, kein französischer, kein spanischer, aber ein ziemlich guter). Vielleicht wirkte auch die Atmosphäre des weihnachtlichen Prags beruhigend auf ihn. An Gott glaubte Edgar natürlich nicht -wenige Andere und noch weniger Dunkle waren anfällig für solche überholten Ansichten. Aber das Weihnachtsfest selbst fand er reizend und ansprechend, weshalb er versuchte, es stets gebührend zu feiern.
Vielleicht lag das an Kindheitserinnerungen? Als er noch ein einfacher Bauernjunge namens Edgar gewesen war, der seinem Vater auf dem Hof half, in die Kirche ging und mit klopfendem Herzen jedes Fest erwartete. Oder kamen ihm die ungebetenen Erinnerungen aus den zwanziger, dreißiger Jahren in den Sinn, als er bereits ein Anderer war, aber noch nicht aktiv in der Wache arbeitete, in Tallinn lebte, eine gut gehende Anwaltskanzlei führte, eine prachtvolle Frau und vier Kinder hatte ... Seine Eltern waren schon lange tot, auch seine Frau hatte er inzwischen begraben, von den beiden noch nicht verstorbenen Söhnen lebte einer in Kanada, der andre in Pärnu. Beide hatte er seit vierzig Jahren nicht gesehen. Es wäre den beiden alten Leuten schwer gefallen zu glauben, dass dieser jugendliche kräftige Mann ihr Vater war, der noch Ende des 19. Jahrhunderts auf die Welt gekommen war.
Ja, vermutlich sind es Erinnerungen, dachte Edgar bei sich, während er sich eine Zigarre anzündete. Trotz allem bot ein normales menschliches Leben doch viel Schönes. Vielleicht sollte er es mal wieder als Mensch versuchen? Heiraten, eine Familie gründen ... sich für dreißig Jahre von der Wache beurlauben lassen...
Er lachte lautlos. Das war doch alles Quatsch. Man konnte nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Er hatte bereits als Mensch gelebt, hatte als einfacher Anderer gelebt, und jetzt war sein Platz in der Tagwache. Jungen wie Anton hatten es gut, mit ihrem ungebrochenen Eifer und ihren lebendigen Gefühlen, aber für Edgar schickte sich eine derartige Unruhe nicht mehr...
Edgar fing den Blick einer jungen Frau auf, die sich allein am Nachbartisch langweilte, und lächelte sie an. Ganz leicht nur berührte er ihr Bewusstsein.
Keine Prostituierte, sondern einfach eine junge Frau auf Abenteuersuche. Umso besser. Er mochte die Professionellen nicht, die ihn ohnehin nicht mehr erstaunen konnten.
Er rief den Kellner und bestellte eine Flasche Sekt.
Vier
Die Inquisition hatte es bei der Unterbringung des Arrestanten an nichts mangeln lassen. Das Hotel war anstän dig, die Suite zwar nicht de luxe, aber sehr schön, mit zwei Zimmern.
Anton verhielt kurz den Schritt, bevor er auf Igor zutrat.
Er hatte sich verändert...
Von Anfang an hatte Igor in der Wache als Fahnder gearbeitet. Er war ihr in den ersten Nachkriegsjahren beigetreten, als es ungeheuer viel Arbeit gab. Damals kam es einerseits zu einer Eruption lichter Gefühle, andererseits erlebten kleine Ganoven Hochkonjunktur ... Außerdem
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