2 - Wächter des Tages
und schweigend. Dann seufzte er und ging irgendwie gekrümmt und ermattet zum Sessel. Er setzte sich und vergrub das Gesicht in den Händen.
»Boris Ignatjewitsch«, sagte Igor. »Sie müssen mir das verzeihen!«
»Nein!«, schrie Geser, ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen. »Ich verzeihe dir das nicht! Hast du dich in die Hexe verliebt? Darüber werde ich nicht urteilen, das ist dein Schicksal. Aber dass du dich schon aufgegeben hast, dafür kannst du keine Vergebung erwarten!«
Igor fühlte sich eindeutig nicht wohl in seiner Haut. Anton sah ihn an und begriff mit einem Mal, dass er trotz allem ins Ziel getroffen hatte. Wenn auch nicht ins Schwarze, natürlich nicht - es wäre dumm gewesen zu glauben, man könne einen Magier, den das Leben zermürbt hatte, mit einem profanen Besäufnis und Gesprächen über Freunde benebeln und ihm seinen Lebenswillen zurückgeben. Noch dümmer wäre es, darauf zu hoffen, ihn davon zu überzeugen, dass seine Liebe schlicht und ergreifend eine widerwärtige gierige Schlampe war.
Aber ihr langes Gespräch in der letzten Nacht, ihr Versuch, die Ereignisse zu verstehen, diese neue Phase im Krieg der Wachen zu durchschauen - all das gehörte zu der Rolle, die sie zu spielen hatten. Igor war von seiner schwermütigen Qual abgelenkt worden. Er fühlte sich wieder wie einer von ihnen.
Damit konnte Geser doch nicht gerechnet haben, oder?
Denn dann wäre sein ganzes Verhalten - inklusive dieser Szene - vorbedacht und berechnet!
Immerhin hatte der Chef insofern Recht, als Igors Verstand im Moment einfach getrübt war...
»Geser, es gibt etwas, das noch nicht einmal du verlangen kannst!«, sagte Igor plötzlich. In scharfem Ton. Mit hochkochendem Zorn. Und bebender Stimme.
»Ja, natürlich, Hauptmann Igor Teplow.« Gesers Stimme war kalt wie Eis. »Das darf ich nicht! Aber wer hatte das Recht, im November 1942 von dir zu verlangen, unter Kugelhagel durch den Dnjepr zu schwimmen? Und wer hatte das Recht...«
»Das ist was anderes!«
»Wieso denn?« Geser erhob sich und trat an Igor heran. Abermals blieb er wie angewurzelt vor ihm stehen, ein kleiner Mann -er war einen Kopf kürzer als Igor - mager und absolut nicht heldenhaft. »Teplow, muss ich dir vielleicht erklären, was der Krieg fordert? Er frisst nicht in erster Linie den Körper, sondern den Geist! Und als du in der ruhmreichen Stadt Berlin den armen Rotzjungen aus der Hitlerjugend mit einem Messer malträtiert hast, damit er seine Leute verrät, hast du das genau gewusst!«
Igor zuckte zusammen, als habe er einen Schlag ins Gesicht bekommen.
»Gewissen ... Liebe ... Ehre ...«, deklamierte Geser nachdenklich. »Niemand hat das Recht, dich zu zwingen, gegen dein Gewissen zu handeln. Niemand hat das Recht, dich zu zwingen, deine Liebe zu verraten. Niemand hat das Recht, dich zu überreden, gegen deine Ehre zu handeln. Niemand. Da hast du Recht. Trotzdem tun wir das! Aus freiem Entschluss. Wenn in einer Waagschale unsere Liebe, unser Gewissen und unsere Ehre liegt und in der andern eine Million Menschen, die verliebt sind, ein reines Gewissen haben, ihre Ehre achten. Wir sind keine Engel, das passt nicht zu uns. Und ich verstehe deinen Schmerz, das kannst du mir glauben! Aber sieh dir Alischer an! Und versuch, auch seinen Schmerz zu verstehen! Und frag Anton, was er über deine Liebste denkt! Und Swetlana!«
»Ich kann Igor nicht verurteilen«, sagte Swetlana leise. »Sie müssen schon entschuldigen, Chef. Und du verzeih mir auch, Alischer. Vielleicht bin ich eine Idiotin ... und nicht würdig, in der Wache zu arbeiten. Nur kann ich euch alle verstehen.«
Sie sagte das sehr leise, ohne jede Effekthascherei, aber Geser blieb nun stumm, erstarrte und ging dann von Igor weg. »Als ob ich das nicht verstehe...«, sagte er und breitete die Arme aus.
Im Zimmer senkte sich Stille herab, zähe Stille.
»Geser, wann immer mir die Pflicht etwas gebot, habe ich es getan«, sagte Igor plötzlich. »Ehrenhaft und unerbittlich. Ohne Rücksicht auf... auf meine Gedanken und Gefühle. Aber meine Pflicht habe ich erfüllt. Bis zum Ende.«
»Nein. Da hast du Unrecht, Igor.« Geser durchquerte das Zimmer und holte eine Zigarre aus seiner Tasche. Er sah sie an, runzelte die Stirn und steckte sie wieder zurück, um ein Päckchen der demokratischen Pall Mall herauszukramen. Er knüllte es zusammen und fuchtelte ärgerlich mit der Hand ... »Die Wache braucht dich. Wir alle brauchen dich. Ich brauche dich.«
»Swetlana braucht mich...«,
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