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2 - Wächter des Tages

2 - Wächter des Tages

Titel: 2 - Wächter des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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gewundert, warum er so dreckig gegrinst hatte, als ich ihm am 23. Februar, zum Tag der Sowejtarmee und der Kriegsflotte, eine Postkarte und Filzstifte geschenkt hatte ...
    Irina half mir, das erste Mal ins Zwielicht einzutreten. Sie sagte, dort würde ich selbst entscheiden, was ich werden wollte. Das Zwielicht würde durch meine Seele hindurchblicken und das auswählen, was am besten zu mir passte.
    Danach sackte meine Freundin Wika auf eine Fünf ab und fing an, unsere Lehrerin und sogar den Schulleiter aufs Übelste zu beschimpfen, weshalb man sie von der Schule nahm und sie Gerüchten zufolge in eine Nervenheilanstalt für Kinder einwies, wo sie sich einer langwierigen Behandlung wegen des seltenen Gilles-de-la-Tourette-Syndroms unterziehen sollte. Der schöne Romka pisste sich während des obligatorischen Diktats nach einem Viertel des Schuljahrs vor Angst in die Hosen, worauf ihm noch zwei Jahre später der Spitzname Hosenscheißer anhaftete, bis er schließlich mit seinen Eltern in einen andern Bezirk zog.
    Onkel Witja ertrank erst drei Jahre später, als er in einem kleinen See einer Datscha schwamm. Für ein Kind ist das schließlich doch eine schwere Aufgabe. Und bei der Erinnerung daran, wie ich mir von ihm eine Haarsträhne besorgte, kommt mir alles hoch...
    Aber ich habe meine Wahl nicht eine Sekunde bedauert.
    Manche glauben, wir, die Dunklen, seien böse. Das stimmt nicht! Wir sind nur gerecht. Stolz, unabhängig und gerecht.
    Und treffen unsere Entscheidungen selbst. Über dem nächtlichen Strand lag ein melancholischer Zauber. Wie in einem herbstlichen Park, wie in einem Konzertsaal nach der Premiere. Die müde Menge hat sich zurückgezogen - um sich für neue Raserei zu stärken; das Meer leckt seine Wunden, spült Melonenschalen an, aufgeweichtes Einwickelpapier von Schokolade, abgenagte Maiskolben und andern Müll der Menschen; über den feuchten, kühlen Sand ziehen sich die Spuren der Möwen und Krähen.
    Ich hörte Igor bereits auf dem Weg zum Strand. Erst nur seine Gitarre, dann auch seine Stimme.
    Er sang, und ich begriff plötzlich mit umwerfender Klarheit: Es würde nichts sein. Dort im Sand saß eine vergnügte Gesellschaft, die eine oder andre Flasche machte die Runde, man aß vom Abendessen übrig gebliebene Brötchen als Zuspeise. Ich Idiotin ... das Äußerste, worauf ich hoffen konnte, war eine Einladung, den Rest der Nacht in seinem Zimmer zu verbringen...
    Trotzdem folgte ich dem Gesang. Nur um mich zu überzeugen ...
Du sagst, die Liebe gibt es nicht, Nur
    Peitsche oder Zuckerbrot. Ich sage, 
    Blumen blühen nur, Weil sie nicht
    glauben an den Tod. Du sagst, dass du
    auf keinen Fall
    Jemandes Sklavin bist.
    Ich sag, dass jemand neben dir
    Dann eben Sklave ist. 
    Ich mochte dieses Lied nicht. Überhaupt gefiel mir Nautilus Pompilius nicht. Die Lieder dieser Gruppe scheinen zwar wie für uns gemacht, aber irgendetwas, das sich nicht fassen lässt, macht sie uns dann doch fremd. Nicht von ungefähr schätzten die Lichten sie so.
    Und speziell dieses Lied hasste ich regelrecht!
    Mich trennten nur noch ein paar Schritte von Igor, als mir aufging, dass er allein am Strand saß. Igor bemerkte mich ebenfalls, hob den Kopf, lächelte, hörte aber nicht auf zu singen.
Es kann ja sein, ich hab nicht Recht, 
    Recht hast womöglich du.
    Doch hab ich selbst gesehn: Es strebt
    Das Gras dem Himmel zu.
    Was streite ich mich denn mit dir
    Die Nacht lang ohne Ruh?
    Es kann ja sein, ich hab nicht Recht, 
    Recht hast womöglich du.
    Was soll der Streit - es kommt der Tag, 
    Und du erkennst im Nu, 
    Ob was am Grund des Himmels lebt
    Und auch, aus welchem Grunde strebt
    Das Gras dem Himmel zu. 
    Ich setzte mich neben ihn, auf ein im Sand ausgebreitetes großes Frotteehandtuch, und wartete geduldig das Ende des Liedes ab.
    »Ein Konzert für Wellen und Sand?«, fragte ich, nachdem Igor die Gitarre weggelegt hatte.
    »Für Sterne und Wind«, korrigierte er. »Ich habe gedacht, du würdest mich in der Dunkelheit nicht so leicht finden. Und einen Kassettenrecorder wollte ich nicht mitschleppen.«
    »Warum nicht?«
    Er zuckte mit den Schultern. »Spürst du das denn nicht? Zu dieser Zeit passt nur ein lebendiger Ton.«
    Igor hatte Recht. Selbst wenn ich der Wahl des Liedes nicht zustimmen konnte - aber gegen einen lebendigen Ton gab es nichts einzuwenden.
    Ich schwieg und sah ihn an. Genauer: versuchte, ihn in der Dunkelheit anzusehen. Er war barfuß und trug bloß Shorts. Seine Haare glänzten feucht.

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