20.000 Meilen unter den Meeren
gefältelten Muschel, einem richtiggehenden kleinen Boot, aus Kalkabsonderungen gebildet. Die Flottille begleitete uns fast eine Stunde lang, dann fuhr von irgendwoher ein plötzlicher Schreck in sie. Wie auf ein Kommando verschwanden die Segel, die Arme zogen sich ein, die Körper schrumpften zusammen und der Schwerpunkt der Muschelschalen verlagerte sich. Im nächsten Augenblick war das ganze Geschwader versunken, ein Manöver, das exakter verlief, als es jede Marine der Erde fertig gebracht hätte.
Am folgenden Tag, dem 26. Januar 1868, kreuzten wir unter 82° östl. Länge zum zweiten Mal den Äquator. Während dieses Tages folgten uns die Haie; wir tauchten und öffneten die Sichtfenster im Salon, da erlebten wir, wie diese Tiere mit allem Ungestüm auf die dicken Glaswände losfuhren. Die Nautilus legte plötzlich Geschwindigkeit zu und ließ das Rudel hinter sich. Am anderen Morgen begegneten wir beim Auftauchen den ersten Leichen von Indern, die beim Bad im Ganges ertrunken und bis hier hinausgespült worden waren: Die Haie, wie die Aasgeier im Bestattungsdienst tätig, waren zu ihren Fressplätzen unterwegs. Als es Abend wurde, färbte sich das Meer um uns weiß, als habe ein Zauberkünstler das Wasser in Milch verwandelt.
»Der Mond?«, fragte Conseil. »Färbt er das Wasser so?«
»Nein«, antwortete ich, »der Mond steht noch unterm Horizont. Schau dir den Sternenhimmel an: Er ist schwarz im Vergleich mit diesen dunkelweißen Gewässern. Man nennt dies ein Milchmeer, eine weite weiße Wasserfläche, wie sie in diesen Breiten und an den Küsten von Amboina häufig vorkommt. Eine unendliche Menge von leuchtenden Infusionstieren, farblos, gallertig, oft über Meilen miteinander verfilzt, belebt hier das Wasser. Es gibt Berichte von Seefahrern über derartige Milchflächen, die bis zu 40 Quadratmeilen groß gewesen sind.«
Conseil war von der Erscheinung mächtig beeindruckt. Je dunkler es wurde, desto stärker leuchteten die seifigen Wogen, in denen die Schraube der Nautilus Schaumwirbel aufriss.
»Unendliche Menge ist nicht ganz korrekt«, sagte ich zu Conseil später noch. »Ein jedes dieser Tierchen ist 1/5 mm lang. Man könnte also ausrechnen, wie viele auf 40 Quadratmeilen …«
Ich erkannte, dass dieser Gedanke etwas abseitig war, und starrte weiter ins Milchmeer. Gegen Mitternacht tauchten wir plötzlich wieder in dunkles Wasser ein und ließen das Milchmeerchen hinter uns. Am Horizont bildete sich ein Nebelstreif aus dem Widerschein der weißen Wellen in der Atmosphäre. Es war Zeit, zu Bett zu gehen.
»137 196 160 000 000«, sagte Conseil.
»Wie bitte?«
»Hundertsiebenunddreißig Billionen hundertsechsundneunzig Milliarden hundertsechzig Millionen wahrscheinlich«, wiederholte mein Diener. »Monsieur sagte doch, dass eins dieser Tierchen 1/5 mm lang …«
Am 28. Januar tauchten wir angesichts eines Landstriches auf, den ich auf der Karte als die Insel Ceylon identifizierte. Die Insel gilt als die fruchtbarste der Erde. Ich wollte gerade Genaueres über sie in der Bibliothek nachlesen, als Nemo zu mir trat und sagte : »Ceylon liegt vor uns, Herr Professor. Hätten Sie Lust, seine Perlenfischereien zu besuchen?«
»Aber ja.«
»Fischer werden wir leider keine antreffen, sie beginnen ihre Arbeit erst später im Jahr. Wir werden bis in den Golf von Mannar fahren.«
Ich suchte den Golf auf der Karte: Er liegt zwischen der Insel Ceylon und dem indischen Festland und reicht bis zum 9. Breitengrad in die nördliche Hemisphäre hinein.
»Auch im Golf von Bengalen taucht man nach Perlen«, erklärte mir der Kapitän Nemo, »in den chinesischen und japanischen Meeren, an Südamerikas Küsten, im Panamagolf und im Golf von Kalifornien. Hier aber haben die Perlenfischer die schönsten Erfolge. Sie versammeln sich im März und gehen etwa einen Monat lang dem Geschäft nach, in Booten, die mit jeweils zehn Ruderern und zehn Fischern besetzt sind. Die Fischer wechseln einander im Tauchen ab. Sie kommen, mithilfe eines schweren Steins, bis in Tiefen von 12 m.«
»Die Naturmethode.«
»Ja. Die Engländer haben die Lizenzen für dieses Gewerbe 1802 im Vertrag von Amiens erworben.«
»Vielleicht täte es den Tauchern und dem Geschäft gut, wenn die Methoden mal von der Industrie revolutioniert würden. Zum Beispiel mit Taucheranzügen, wie Sie sie benutzen.«
»Tja, sicher. Die Leute können nämlich nicht sehr lange unter Wasser bleiben. Bei 30 Sekunden liegt die durchschnittliche Tauchzeit und
Weitere Kostenlose Bücher