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20.000 Meilen unter den Meeren

20.000 Meilen unter den Meeren

Titel: 20.000 Meilen unter den Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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erwiderte kaum. Ich dachte, er werde mir vielleicht Erklärungen über die vergangene Nacht geben, aber nichts dergleichen geschah. Da wandte ich mich wieder meinen Notizen zu und tat, als beachte ich ihn ebenso wenig wie er mich. Dabei sah ich ihn mir aus den Augenwinkeln heraus an: Er ging ziellos im Salon auf und ab, sah übernächtigt und elend aus, seine Augen hatten sich sichtbar gerötet und das Gesicht, das gestern Morgen von Hass verzerrt wurde, spiegelte tiefen Gram wider. Er setzte sich, stand wieder auf, trat vor die Orgel, blätterte eine Partitur durch, legte sie ungerührt wieder hin, sah nacheinander auf alle Instrumente, murmelte die Daten lautlos vor sich hin und trat dann schließlich brüsk auf mich zu : »Sind Sie Arzt?«
    Ich war so verdutzt über diese Frage, dass ich eine Weile zur Antwort brauchte.
    »Sind Sie Arzt?«, wiederholte er. »Ich dachte nur, weil einige Ihrer Kollegen doch auch, Gratiolet, Moquin-Tandon …«
    »Ja«, antwortete ich. »Ich habe tatsächlich Medizin studiert und auch einige Jahre lang praktiziert, bevor ich am Museum angestellt wurde.«
    »Gut. Würden Sie einem meiner Leute behilflich sein?«
    »Sie haben einen Verwundeten?«
    »Ich habe einen Kranken.«
    »Gut, ich bin bereit.«
    »Kommen Sie!«
    Ich gestehe, dass mein Herz jetzt klopfte, denn mir schien, dass es zwischen den Vorfällen dieser Nacht und der plötzlichen Erkrankung einen Zusammenhang gab. Nemo führte mich den Gang entlang bis ins Heck der Nautilus und ließ mich in eine kleine Kabine eintreten, die sich neben dem Mannschaftsraum befand. Darin lag auf einer niedrigen Bettstatt ein Mann von etwa 40 Jahren, kräftig gebaut, bärtig, ein angelsächsischer Typ. Ich beugte mich über ihn und erschrak.
    Dieser Mann war nicht krank, sondern tödlich verwundet. Sein Kopf, mit blutigen Leinwandstreifen umwickelt, ruhte auf einem blutverklebten Kissen. Ich nahm ihm langsam die Binde ab und sah, was ihm geschehen war: Der Schlag mit einem schweren Gegenstand hatte ihm die Schädeldecke an einer Seite zertrümmert und zu einer grässlichen Wunde geöffnet. Das Gehirn lag zu großen Teilen frei, gequetscht und eingerissen, in einer fließenden Masse suppend, die von geronnenen Blutklumpen starrte. Der Verletzte gab keinen Laut von sich, atmete nur noch mit leisen Stößen und zeigte verkrampfte Gesichtszüge: Der Gehirnschaden hatte bereits zu Muskel- und Nervenlähmungen geführt.
    Als ich seinen Puls fühlte, merkte ich, dass er an den äußeren Gliedern schon kalt wurde. Ich legte ihm vorsichtig die Tücher wieder über das Loch im Schädel. Dann erhob ich mich und trat zum Kapitän.
    »Woher kommt diese Wunde?«
    »Das ist doch völlig gleichgültig. Nehmen Sie an, ein Maschinenteil hat ihn getroffen. Können Sie ihm helfen?«
    Ich zögerte mit der Antwort.
    »Reden Sie, der Mann versteht kein Französisch.«
    »Er wird binnen zwei Stunden sterben.«
    »Sie können nichts tun?«, fragte Nemo und beschattete seine Augen mit der Hand. Er sah mir gerade ins Gesicht.
    »Nichts.«
    Und dann schloss er die Hand über den Augen, als wolle er sich besinnen; aber ich hatte die Tränen darunter gesehen.
    Ich wandte mich ab, beugte mich wieder zu dem Sterbenden hinunter, um vielleicht aus seinen letzten Worten eine Aufklärung über das zu bekommen, was hier vorgefallen war.
    »Sie können jetzt gehen, Professor«, sagte da der Kapitän scharf.
    Ich ging hinaus und ging langsam in mein Zimmer und ich muss gestehen, dass mich das Sterben dieses Mannes und alles, was ich dazu gesehen hatte, bis in die Träume dieser Nacht hineinverfolgte.
    Am anderen Morgen traf ich den Kapitän auf der Plattform.
    »Ich habe einen Ausflug unter Wasser vor«, sagte er ohne jeden Gruß. »Wollen Sie mitkommen?«
    »Allein?«
    »Sie können gern Ihre Gefährten mitnehmen.«
    Eine halbe Stunde später steckten wir in den Gummianzügen und warteten in der Schleuse. Diesmal war auch der Kanadier mit dabei. Außerdem begleiteten den Kapitän zehn oder zwölf Leute seiner Mannschaft.
    Wir stiegen in einer Tiefe von 10 m aus der Nautilus aus. Der Boden sah hier vollkommen anders aus als bei unserem ersten Unterseegang im Stillen Ozean: keine Spur von Sand, von unterseeischen Wiesen und Buschlandschaften. Wir traten auf harten Grund. Hier unten dehnte sich das Korallenreich.
    Die Koralle gehört zu den Tierpflanzen, aber dieser Zuordnung war man sich in der Wissenschaft erst spät sicher geworden. Sie wurde wegen ihrer Kalkgehäuse auch zu den

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