2012 – Das Ende aller Zeiten
wurde klar, dass die Soldaten mir hier befohlen hatten, mich in die Reihe zu stellen …
Ach, mierditas. Flashback-Alarm.
Die G2 – was die »Antiterror«-Einheit der guatemaltekischen Armee war oder ist – war an dem Morgen angerückt, um zu veranstalten, was diese Leute eine »celebración« nannten. Sie kamen in großen alten US -amerikanischen Militär-Lkws mit großen Lautsprechern und versammelten die gesamte verfügbare Einwohnerschaft einschließlich mir in meinem kleinen weißen sackleinenen Anzug und allen Kindern aus dem Krankenhaus, die sich mehr oder weniger auf den Beinen halten konnten. Sie reihten uns nach Körpergröße auf – ich weiß noch immer nicht, weshalb – und ließen uns in der Sonne stehen, während der befehlshabende Offizier eine langatmige zweistündige Ansprache darüber hielt, wie der Rat von T’ocal und von zwei weiteren Ortschaften uns getäuscht hätten, die in Wirklichkeit allesamt Kommunisten wären, die auf Castros Lohnliste ständen. Er sagte uns, welches Glück wir hätten, in einer freien Wirtschaft zu leben, in der wir alles bekommen könnten, was wir je wollten, wenn wir fleißig wären, und wie das Land sich verändern würde und dass es anders wäre als unter García, dass die jetzige Regierung ihr Versprechen, die Indianer fair zu behandeln, immer eingehalten hätte, und dass die Leute, die sie gefangen genommen hätten, vor ein ordentliches Gericht gestellt würden. Immer wieder spielten sie Guatemala Feliz auf den Lautsprechern ab, achtundsechzig Mal, um genau zu sein. Nach ein paar Durchgängen ließen sie uns einen Treueeid schwören, den sie bei den US -Amerikanern abgekupfert hatten, und dann spielten sie die Nationalhymne erneut, que tus aras no profane jamás el verdugo und so weiter, und dann gab es eine neue Ansprache. Schließlich lasen sie uns die Liste der Umsiedlungen vor. Sie schloss jeden Einzelnen aus meinem Heimatdorf ein. Es gehörte zu einem von vier Dörfern, die die G2 in dieser Woche niedergebrannt hatte, weil dort »Kubanern« Unterschlupf gewährt worden sei; so nannten sie jeden, den sie verdächtigten, Sympathien für die Rebellen zu hegen. Wieder spielten sie die Hymne ab, dann eine aufgezeichnete Rede, und erneut die Hymne – das ging so lange weiter, bis die Soldaten es vor Langeweile nicht mehr aushielten, Streit vom Zaun brachen und anfingen, Leute zusammenzuschlagen. Die meisten der etwa dreitausend Indianer und Mestizen auf dem Platz ergriffen nicht die Flucht, sondern standen einfach da, nicht aus passivem Widerstand, sondern weil sie wahrscheinlich niedergeschossen worden wären. Schwester Elena – ich sah wieder ihr breites Gesicht in viel zu hoher Auflösung mit all seinen kleinen Poren und der Andeutung von schwarzem Flaum auf der Oberlippe – und den anderen Nonnen gelang es, uns Kinder wieder ins Krankenhaus zu schaffen. Ich begriff, was vorgefallen war, zumindest ein bisschen, und war nur noch ein zuckender kleiner Ball aus Entsetzen. Was war aus meinen Eltern geworden?
Im Gegensatz zu einigen Kindern aus der Nachbarschaft habe ich nicht gesehen, wie unser Haus in Brand gesteckt wurde; ich habe nicht zusehen müssen, wie meine Mutter und meine Schwestern vergewaltigt wurden und wie man meinen Vater verhörte und hinrichtete. Ich war von zu Hause fort gewesen. Ich glaube, ich habe es mir erst lange, nachdem es geschehen war, überhaupt ausmalen können. Damals, als Kind, konnte ich mir nicht vorstellen, dass meine Mutter vor irgendetwas Angst haben sollte. Jetzt habe ich dieses Bild von ihr, mit Entsetzen in den Augen und Blut im Haar, vor sich einen großen roten Kanister mit Benzin, und ich weiß, dass es korrekt ist. Todo por mi culpa, todo …
»Más despacio, vos«, sagte No Way mir ins Ohr. »Gehen wir ein bisschen langsamer.« Er wollte nicht, dass wir zu zielstrebig wirkten.
Wir sickerten auf den Platz ein. Wie es aussah, hatten sich ungefähr fünfhundert Leute aufgerafft und waren zur procesion herausgekommen. Eine Herde von Kindern in den Matrosenanzügen einer Konfessionsschule, die alle coca-kolonisiert aussahen mit ihren Bluetooth-Ohrhörern und Hello-Kitty-Baretts, umwimmelten einen Trupp Fußballspieler in blauen Trikots, die umherschlenderten und alle frisch, fromm, fröhlich, frei dreinschauten. Wir brachten den Spießrutenlauf durch eine Doppelreihe Händler hinter uns, die an ihren Ständen Roscos und Buñuelos feilboten. Ich kaufte Marena eine Tüte empanadas de achiote und mir gleich
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