2012 – Das Ende aller Zeiten
hatte, sah ich, dass ich in einer ausgedehnten Höhle war, die mir nach all dem Eingepferchtsein so groß vorkam wie die Hyperbowl. Der Hülsenhaufen lag unweit einer Vorratsnische, die mit Zedernstämmen abgestützt war. Darin lagen haufenweise ungeschälte Kakaobohnen und gegerbte Hirschhäute, die nach natürlichem Ammoniak rochen und so weit wie möglich von der Stelle entfernt gehortet wurden, wo aus knapp fünfzig Armen Höhe grünes Licht durch ein gezacktes, dreißig Armen durchmessendes Ochsenauge fiel, von dem ich zuerst glaubte, es sei von Wurzeln verhangen, bis ich erkannte, dass es Stalaktiten waren. Überall in der Höhle gab es Gerüste, Stützen und Seile und Mauerstreben und Trockengestelle, doch die Hauptattraktion war die wahrscheinlich größte Strickleiter der Welt, ein Streifen von ungefähr sechzig Balken, drei bis sechs Meter lang, die mit dicken geflochtenen Seilen aneinandergeknotet waren und von der einen Ecke des Bodens steil zum anderen Endedes Ochsenauges hinaufführten. Fünf beinahe nackte Arbeiter krabbelten darin herum wie Matrosen in den Wanten eines Rahseglers und lenkten ein Bündel brettharter, ungegerbter Hirschfelle hinab. Noch mindestens dreißig weitere Arbeiter schufteten in der Höhle, und einige mussten uns zu neugierig anschaut haben, denn Hun Xoc, der bereits hinuntergeklettert war, schnauzte sie an, sie sollten sich wieder an die Arbeit machen. Man stellte mich aufrecht hin, doch ich brauchte noch immer zwei Leute, die mich beim Gehen stützten, nicht weil ich von all den Misshandlungen weiche Knie hatte – obwohl auch das dazu beitrug –, sondern weil ich, seit Schakals Bewusstsein fort war, neu lernen musste, mich mit dem fremden Körper zu bewegen. Das Schlimmste war, nach links zu wollen und sich stattdessen nach rechts zu drehen. Wir steuerten um ein großes, natürliches Regenwassersammelbecken und gingen an einem Koch in Frauenkleidern vorbei, der über drei kleinen Herdplatten die Frühstückstortillas klopfte. Ich schätzte, er war, was die Anthropologen einen Berdache nennen, ein transsexueller Mann, der in männlicher Umgebung Frauenarbeit verrichten darf. Über dem Herd erhob sich ein Kamin aus Lehm und Flechtwerk und wand sich neben der Leiter her wie ein Ofenrohr ins Freie. Wir mussten uns unter einem Gestell hinweg ducken, wo frisch geschossene Jabirus am Hals gebündelt aufgehängt waren und gerupfte Moschusenten auf einem Haufen lagen. Mir fiel auf, wie hungrig ich war. Hinter dem Küchenbereich gab es eine erhöhte hölzerne Plattform, wo zwei alte Harpyienbuchhalter mit Affenstirnband Maße voll Saatmais abzählten und an Gehilfen weiterreichten, die die Körner in Maisstrohschachteln streuten und mit bunten Bindfäden verschnürten. Ballen gummierter Leinwand und bündelweise Torpedozigarren von 50er Ringmaß waren auf Korbpaletten gestapelt, die nicht an der Wand, aber außerhalb der Reichweite des Regens standen. Kein Wunder, dass die Harpyien in dieser Stadt seit dreihundert Jahren an der Macht sind, dachte ich. Sie sind Überlebenskünstler.
Man lenkte mich aus dem Hauptraum in einen dunklen, schrägen Felsspalt und von dort in einen halb natürlichen, halb behauenen Seitengang mit höchst gefährlichen Skelettnadeln, die knapp überKopfhöhe endeten, und einem holprigen Boden, der im Dreißig-Grad-Winkel anstieg. Ehe wir ganz im Dunkeln standen, wurde in einer Art Vorraum Halt gemacht, und man ließ die Kostümierer rufen. Diese erschienen und machten mich noch einmal sauber. Wenigstens brauchte man hier nicht selbst Toilette zu machen. Als ich noch zum College ging, war ich eine Zeit lang mit einer Inderin zusammen – sie war sogar mal Miss Indien gewesen; allerdings erwarte ich nicht, dass Sie mir das glauben –, und eines Tages fand ich zu meiner Verblüffung heraus, dass sie sich noch nie selbst die Haare gewaschen hatte, in ihrem ganzen Leben nicht, kein einziges Mal. Ich erfuhr, dass das in Indien unüblich war, wo die Mädchen Hausmädchen und diese wiederum Dienstmädchen hatten. Und hier hatte selbst ein Knastbruder wie ich seinen eigenen Stylisten. Nachdem er fertig war, richteten sie mich auf, und wir begaben uns in völlige Finsternis, um uns einen wulstigen Pfad entlangzutasten, der in den Kalksteinboden gehauen war. Wir stießen tiefer in den Berg vor. Dort gab es weniger Luftzug und ungesündere Gerüche. Unter den Füßen spürte ich einen mit Lehm ausgeglichenen Boden, und der Gang verbreiterte sich zu einem L-förmigen
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