2012 – Das Ende aller Zeiten
Blickkontakt, in dem es nicht um Dominanz ging. Tja, vielleicht war es auch nur purer Kampfgeist – wie gesagt, auf eine Herausforderung hin tut man hier alles –, aber jedenfalls öffnete sie die Augen und sah mich an.
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Als ich noch die Nephi-Highschool besuchte – und mir ist schon klar, dass es eigentlich keinen guten Moment gibt, um eine Erzählung zu unterbrechen, und selbst wenn es ihn gäbe, wäre es dieser ganz bestimmt nicht, aber trotzdem, lieber und dreimal geduldiger Leser, wie man früher so schön sagte, unterbrechen wir trotzdem ganz kurz –, gab es eine Aushilfslehrerin in Dauerstellung, die in den unteren Klassen unterrichtete, eine hoch gewachsene, uralte Dame, die sich noch erinnern konnte, wie die Enkel der Pioniere barfuß zur Schule kamen, und deren Schatz an Zeitvertreiben aus der Zeit, bevor es Medien gab, Material für eine Dissertation geboten hätte. Sie wusste alles, was es über Stoffmarionetten, kunstvolle Handarbeiten und Weihnachtssterne aus Papier zu wissen gab, besonders aber über Gesellschaftsspiele – Pfänderspiel, Scharaden, das entsetzliche Ritual des Äpfeltauchens, Rosinenfischen und Stille Post, eine ganze verlorene Welt für endlose trübe Abende in der Zeit vor der Elektrifizierung des ländlichen Amerika –, und jedenfalls, eines Freitagnachmittags schnitt sie aus einem alten weißen Bettlaken drei Paar winziger Augenlöcher aus und ließ das Laken mit Klebeband über den breiten Eingang zur Aula hängen. Die Hälfte der Klasse aus vierundzwanzig Kindern ging hinter das Laken, und drei von ihnen traten vor und beobachteten uns Übrige durch die Augenlöcher. Jeder von uns musste dicht an das Laken treten, ihnen direkt in die Augen sehen und erraten, wem sie gehörten. Wie sich erwies, war es fast unmöglich; man konnte nicht sagen, wer es war – außer bei Jessica Gunnison, einer nahezu albinotischen Rotblonden, deren Pupillen vom gleichen Anilinviolett war wie die nach Methylalkohol riechende Tinte auf der letzten und hellsten Kopie aus dem Matrizendrucker. Ohne mehr vom Gesicht zu erkennen, konnte man nicht sagen, ob man seinen besten Freund oder schlimmsten Feindvor sich hatte, und man wusste auch nicht, ob die Person einem Fratzen schnitt; man konnte nicht einmal sagen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Das hat mich genügend beeindruckt, dass es mir noch Jahrzehnte später so erging: Sah ich in die Augen einer jungen Dame und versuchte auf einem etwas höheren Niveau als dem pur animalischen Kontakt aufzunehmen oder einen Funken von Bindung zu übertragen oder, noch schlimmer, eine Spur Aufrichtigkeit zu finden, und ich bekam das Gefühl, ja, sie ist ehrlich zu mir, weil ich ihr direkt in die klaren Fenster zu was auch immer schaute, da erinnerte ich mich wie aus dem Nichts an dieses dämliche Ratespiel, und plötzlich sahen ihre Pupillen nur noch wie zwei ausgeschnittene Löcher aus, hinter den die schiere intergalaktische Leere herrschte, und zwischen uns baute sich ein Gefühl des Alleingelassenseins auf, dieses Gefühl, man treibe in dem mechanistischen Kosmos nicht nur ohne Kommunikation zu anderen Wesen, sondern auch ohne dass die Möglichkeit irgendwelcher Kommunikation mit einem anderen Wesen jetzt, in der Zukunft oder auch in der Vergangenheit möglich wäre, und alles verwandelte sich sofort in mierditas refritos . Und jetzt – im Jahre 664, meine ich – geschah es mir wieder: Ich sah Frau Koh in die Augen und hoffte mehr als nur verzweifelt, dass ich dort etwas erkennen würde, einen Funken Zauber oder Geist oder wenigstens Unbestimmtheit, ein Zeichen, dass sie und ich beide mehr oder minder wirklich und bewusst wären und einen freien Willen besäßen und zur gleichen Zeit am gleichen Ort weilten. Wie ich, glaube ich, schon gesagt habe, war Frau Kohs Gesicht so ungefähr das ausdrucksloseste, das mir je untergekommen ist, und ich habe über zirka zehntausend Schachbretter, Go-Bretter und Hold-’Em-Tische hinweg schon einige Steinvisagen erblickt, aber ihre Augen hatten etwas ganz Eigenes an sich, etwas Flüssiges und Einen-in-sich-Reißendes wie bei Cléo de Mérode. Ihre Iris war so dunkel, dass man nicht genau erkennen konnte, wo die Pupille begann, doch man sah trotzdem, dass es zwei unterschiedliche Schwarztöne waren, so wie in einem Gemälde von Ad Reinhardt, und dass das linke Auge kühler und das rechte warmer war … Ich dachte, ich hörte es draußen regnen, dann begriff ich, dass ich das Blut hörte, das mir durch die
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