2012 - Tag der Prophezeiung: Roman (German Edition)
weiter.
Okay, vergiss nicht zu blinzeln, dachte ich. Da gab es diese Geschichte von dem französischen Adligen, der während der Revolution hingerichtet werden soll und der seinen Freunden sagt, sie sollen bei seiner Exekution zusehen. Er habe dafür gesorgt, dass der Henker den Kopf aus dem Korb nehmen und der Menge zeigen werde. Wenn er dann noch lebte und bei Bewusstsein wäre, werde er blinzeln; es sei nur ein Experiment. Und sein abgetrenntes Haupt blinzelte tatsächlich. Bei mir ging es natürlich nicht um das Blinzeln, sondern um die Frage, ob ich noch denken konnte, nachdem mein Herz zu schlagen aufgehört hatte, und wie lange die Denkfähigkeit anhielt. Das interessierte mich einfach. Ein letzter kleiner Glanzpunkt.
Mein Herz poche bereits mühsam, TUB -bub, TUB -bub. Ganz ruhig, du stirbst, dachte ich. Ich holte tief Luft und musste mich beherrschen, um nicht zu husten von dem Staub, den der Einsturz aufgewirbelt hatte, und dem Rauch der Minze-Moschus-Fackel, die in der sauerstoffarmen Luft flackerte.
Cortez und Pizarro und DeLanda können hier rumfuhrwerken, so viel sie wollen, dachte ich. Ich werde alles wieder aufbauen, und schöner als zuvor. Ozelot wird sich erheben, die Herren der Matte können im nächsten Zeitalter wieder Schädel knacken, der blaue …
(79)
PANIK
PANIK
PANIK
Warte.
Hun Xoc und Alligator-Wurzel sahen noch immer zu. Nur um sicherzugehen, dass sich alles wie geplant versiegelte. Sie würden sich nicht die Adern öffnen, ehe das feststand. Der Deckel über mir wuchs langsam an, wie der Schatten meiner Hand, den ich früher, wenn ich nicht einschlafen konnte, mit der Taschenlampe an die Zimmerdecke warf und so langsam wie möglich zu senken versuchte, wie die Pranke Gottes. Das klappt nicht, dachte ich, alles war umsonst, niemand kapiert diesen Zug, alles ist vorbei. An Heiligabend 2012 sind die Welt und alle Menschen und Kinder und Kunstwerke und Giraffen und Krankheit und Pyramiden und sogar das Leben selbst nur noch eine heiße Staubwolke im Universum.
Ich blinzelte zu dem Deckel hoch, der sich über mir schloss. Noch ungefähr zwei Fingerbreiten Zwischenraum. Das Gel stach mir im Auge, und das Licht, das durch das Gel schien, wurde schwächer. Ich spürte den Druck des Deckels durch das Kolloid. Er hatte sich aufgesetzt, ohne dass ich auch nur die Schwingung eines Klickens durch den Stein hörte; der Deckel war einfach stehengeblieben, wie der Atem stehenbleibt, und es war dunkel. Eingeschlossen. Vakuumverpackt.
Ich fand eine letzte Luftblase am Rand des Spalts. Als ich nach Atem schnappte, lief mir das Gel in den Mund. Ich biss die Zähne zusammen. Meine letzte Luft. Lebewohl, Luft. Hab dich immer gemocht. Mein Kopf trieb gegen den steinernen Deckel und drehte sich auf die Seite. Unterhalb meiner Brust spürte ich gar nichts mehr,nur meinen nichtexistenten Fuß. Er juckte, und ich wollte mich dort kratzen, aber das konnte ich nicht, und mich überrollte eine Woge der Klaustrophobie. Ich versuchte mich zu winden, um es zu erreichen, dieses verdammte Jucken. Die Beruhigungsmittel wirken nicht, schoss es mir durch den Kopf. Ich hätte längst fri-fra-fröhlich sein müssen, empfand aber nur blinde Erstickungsangst, völligen Wahnsinn, wie eine Raupe, die Wespenlarven von innen auffressen.
Ich spürte, wie mein Herzschlag unregelmäßig wurde. Beruhig dich, du calme,calm down! Du wirst wieder leben, versicherte ich mir. Mit sämtlichen Erinnerungen und allem. Alles wird gut, mach dir keine Sorgen, komm schon, ganz ruhig. Du wirst wie eine E-Mail sein, kopiert und dort schon gelesen, ehe du hier ganz weg bist. Alles wird gut, ganz wunderbar, superprima …
Nein. Von wegen. Alles Wunschdenken. Selbst wenn sie dich zurückholen, hast du kein übertragbares Bewusstsein mehr. Du stirbst, so sieht’s aus. In mir öffnete sich wieder dieser gähnende Abgrund, diese umfassende Furcht vor der Leere, die sich nicht beschreiben lässt. Die Gewissheit, dass alles leer ist, war einfach zu viel, aber ich war noch hier, ich musste hier raus …
Nein, denk nicht in diese Richtung. Alles, was du getan hast, alles, was du herausgefunden hast, wird die Welt bewahren, und es lebt weiter, immer weiter.
Na, ist das kein Trost?
Nein, überhaupt nicht.
Ich konnte die Luft nicht mehr anhalten und stieß sie aus, aber in diesem Mistzeug blubberte sie kaum noch. Es hatte die Konsistenz von warmem Joghurt angenommen, während die Polymerketten sich um mich verlängerten und miteinander
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