2012 - Tag der Prophezeiung: Roman (German Edition)
Gunsten zu wenden.
Jedenfalls erklärte Koh sich schließlich einverstanden, und 1-Gilas Plan rettete den Tag. Einmal nahm Hun Xoc mich beiseite und sagte, ihm sei ein wenig unwohl bei dem Gedanken, dass 1-Gila einfach verschwinden könnte, ohne je nach Ix zu kommen, doch nachdem wir die Sache eine Zeit lang durchgekaut hatten, kamen wir zu dem Schluss, dass 1-Gila sich im Grunde nirgendwohin wenden konnte. Er und seine Leute waren als Ausgestoßene gebrandmarkt, die weit von zu Hause weg waren; sie konnten jetzt entweder eilends nach Ix fliehen, oder man würde sie fressen. Und einige von ihnen würden sogar durchkommen. Wir hatten Wege ausgearbeitet, die uns beide gleichzeitig nach Ix bringen würden: Der große Heerwurm würde im Tageslicht direkt auf Ix marschieren, und wir müssten den langen Weg nehmen und nachts weiterhetzen.
Ich saß im Strategieausschuss. Ich beriet Koh. Ich spielte im Vorbeigehen Hüftball, wann immer das Heer an einem brauchbaren Platz vorbeizog, und danach schlief ich, während die Träger mich eilends zum nächsten Platz transportierten. Ich bekam einige meiner Fähigkeiten zurück – zwar längst nicht in dem Maße, in dem ich sie als Schakal besessen hatte, aber schlecht war ich auch nicht. Doch all das geschah in einem Nebel der Verzweiflung, dem Gefühl, als hätte man plötzlich begriffen, dass die ganze Welt nur aus feuchter Wellpappe besteht und von keinem weiteren Interesse ist, weil feuchte Pappe nun mal feuchte Pappe bleibt, ganz gleich, wie kunstvoll man sie schneidet, faltet, bemalt und arrangiert. Nur fand es diesmal nicht in meinem Kopf statt, es war wirklich der Fall: Die Welt verabschiedete sich ausgerechnet in dem Moment, in dem es interessant wurde. Obwohl ich hier war, »hier« im Jahre 664, kam es mir vor, als würde das Ende schon morgen kommen, oder heute Abend, in einer Stunde, einer Minute, ehe ich diesen Satz zu Ende brachte – und in Begriffen historischer Zeit, geschweige denn geologischer Zeit, lag es tatsächlich nur einen Augenblick entfernt. O Hölle, Hölle, Hölle.
Gleich nach der Geburt der neuen Sonne schleppten wir uns am Südufer des Río Coatzacoalcos entlang. Ich lag auf meiner Sänfte und verfluchte den Tag meiner Geburt und alle anderen Tage und jeden geborenen Menschen. Koh wies meine Träger an, mich längsseits zu ihr zu bringen. Während wir weiterzogen, begann sie ein Gespräch – ein fast modernes Gespräch zwischen gleichgestellten, skeptischen Personen und keine altmayalandtypische förmliche Hofkonversation.
»Alles niederzuschreiben wäre ohnehin nicht gut genug gewesen«, sagte Koh. Soweit es sie betraf, war das Opferspiel eine solch subtile, körperliche Kunst, dass nur direkt übermittelte Ergebnisse etwas wert waren. »Du musst deinem Adler einen Weg in dein B’ak’tun weisen« – mit »Adler« meinte sie mein primäres Uay, mein Ich sozusagen, oder, wie wir es ausdrücken, mein Gehirn –, »und dort musst du selbst sein, um Sternenrassler zu bitten, weitere dreizehn Segmente seines Leibes zu opfern und so deiner Welt dreizehn neue B’ak’tunob’ zu schenken.«
»Ich kann nicht behaupten, einen plausiblen Weg zu sehen«, erwiderte ich.
»Wir werden den Weg gemeinsam planen, beim Menschenspiel«, sagte sie. »K’ek’wa’r.« Das heißt: »Doppelte Kraft« oder grob: »Nur Mut.«
Ich signalisierte ein »Dank-dir-neben-mir«.
Ich muss dir etwas zeigen, signalisierte Koh zurück.
IX IM JAHRE 664 N. CHR.
(26)
Koh ließ uns von ihren Korbflechterinnen ein Schutzdach anfertigen, und wir setzten uns neben den Treidelpfad am Río Atoyac. Der Tag war dunstig, aber unter den Zypressen war es kühl, und man roch das Tannin und hörte das Rauschen des reißenden braunen Wassers. Vier von Kohs tauben Gardisten stellten Krüge und Töpfe mit Trinkwasser auf, umgaben uns mit vier breiten Binsenschirmen, kauerten sich mit dem Rücken zu uns hin und wachten. Hun Xoc und ein paar andere Geblüte saßen weiter entfernt zwischen uns und dem Fluss. Hinter mir kauerte Gürteltierschiss; auf Kohs Schulter saß ihre Zwergin. Weniger Menschen hatten Koh und ich nie um uns gehabt, seit wir Teotihuacán verlassen hatten, und es bestand keinerlei Gefahr, dass wir beobachtet oder belauscht wurden; dennoch sah sich Koh eine Weile um und horchte. Dann holte sie ein Bündel hervor und nahm einen kleinen, mit Leder umwickelten Tonkrug heraus. In seinem Deckel waren viele kleine Löcher wie bei einem Salzstreuer, und jedes Loch war mit
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