2.02 Der fluesternde Riese
härtesten Bums, und die kleine Fli-Fla, die man aufgrund ihrer unberechenbaren Beweglichkeit auch den Vollkontaktflummi nannte.
Sie waren alle noch da. Sie lachten und kicherten sorglos vergnügt und brieten ihre Marshmallow-Joghurt-Spieße über den Feuern. Doch heimlich linsten sie zu dem schwarzen Zelt, das etwas abseits im Schatten stand. Es stand als einziges auf dem Boden, und als sich der Vorhang vor dem Eingang bewegte, zischten sie ihr berühmtes „KSSSSSSS!“.
„Jetzt kommt sssssie!“, lachte Fli-Fla. „Ssssssie hat sich entschieden!“
Ich hörte das Rasseln ihrer Klappenschlangenschwänze, die sie an ihren Gürteln trugen. Den Gürteln der Kutten, die die sonst nur mit Tanktops und Röcken bekleideten Mädchen vor der kühlen Nachtluft schützten. Dann schlug der Zelteingang zurück. Es war wie ein eiskalter Flügelschlag, und im nächsten Moment packten zwei Fäuste mein Herz.
Fabi trat aus dem Zelt. Ja, ihr habt richtig gehört. Fabi, der schnellste Rechtsaußen der Welt. Der beste Freund, den mein Bruder Leon je hatte, und als Ausdruck seines Verrats trug der Ex-Wilde-Kerle unter der schwarzen Motorradjacke einen grün-schwarz karierten schottischen Quilt.
„Ich hab’s dir gesagt!“, flüsterte April tonlos.
Aber ich hörte sie nicht. Denn hinter Fabi folgte Vanessa, und die trug die gleichen Kleider wie er. Schwarze Motorradjacke und grün-schwarzen Rock, als wollte sie wie der Verräter neben ihr sagen: Aus Schwarz wird jetzt grün. Der Ex-Wilde-Kerl wird zum Biestigen Biest. Und Fabi gefiel das. Er schob die schwarze Melone verschmitzt in den Nacken, lachte sie an, nahm sie bei der Hand und ließ sie sich – wie bei diesen affigen Tänzen – zweimal um sich selber drehen. Und Vanessa genoss das.
„Darf ich euch vorstellen!“, lachte Fabi vergnügt. „Wir haben eine neue Natter im Nest. Eine schwarz-grüne Mamba.“
„Vanesssssssa“, lachte Fli-Fla, „mit dem tödlichen Bisssssssss.“
„Ja, absssssolut tödlich für die wilden Kerlchen.“ Donnerschlag-Nele hob ihre Hände auf Kopfhöhe, legte die Handflächen auf die von Yvette, und dann fauchten sich beide Mädchen an.
„Reicht dir das?“, fragte April durch den biestigen Spott, und anstatt ihr zu antworten, robbte ich rückwärts zurück. Ich hörte nichts mehr. Ich sah nur Vanessa. Die wurde von Fabi an sein Feuer geführt. Er lachte sie an, und sie schaute glücklich zu den anderen Biestern.
Ich saß schon im Sattel von Aprils Quad und schaute noch einmal zu den Feuern zurück, die die Schatten der Bäume zum Leben erweckten und wie Dämonen tanzen ließen. Dämonen und Geister in meinem Kopf. Ich war nicht mehr ich. Ich war nicht mehr bei mir. Ich hatte mich irgendwo in den Schatten verloren.
„Warum zeigst du mir das?“, hörte ich meine eigene Stimme, und dann hörte ich April, die sagte:
„Weil ich dich zu schätzen weiß. Ja, und weil ich dich bewunder’, Marlon.“
Ich starrte sie entgeistert an: Wie konnte sie mich bewundern und schätzen, wenn Vanessa, nur einen Steinwurf von uns entfernt, alles, was mir etwas bedeutete, verriet und mit Füßen trat?
„Und weil ich es immer noch will. Ich will, dass du zu mir kommst.“ Sie setzte sich vor mir auf ihr Quad, mit dem Rücken zum Lenker, und schaute mich an. Ihr Gesicht war nur Zentimeter von meinem entfernt, und ich sah die Perlentattoos auf der Haut.
„Komm zu den Wölfen“, sah ich sie lächeln. „Du hast ein so wunderbares Herz. Du hast das goldene Herz eines Wolfes, und ich möchte, ich will nicht, dass es stirbt. Doch es wird sterben, Marlon, hörst du, wenn du da bleibst, wo du bist.“
Sie legte ihre Arme um meinen Hals und hielt mich ganz fest. Ich spürte ihre Wimper meine Wange berühren, und ich spürte die Träne, die sie vergoss.
„Ich bitte dich, Wolfsherz.“
Dann küsste sie mich mit ganz weichen Lippen, und die waren gleichzeitig warm und kühl. So wie eine Bettdecke, die man in einer heißen Sommernacht wendet, um die Kühle der Nachtluft auf dem Körper zu fühlen.
Ja, das tat gut. Doch obwohl es so guttat, wehrte ich mich. Ich schob April weg. Vorsichtig, zärtlich, und dann bat ich sie leise, mich nach Hause zu bringen. Nein, nicht zu den anderen. Nicht nach Camelot 3. Nicht zum Flüsternden Riesen. Ich wollte allein sein. Ich wollte nachdenken und weinen. Und der einzige Ort, wo das für mich möglich schien, an dem niemand war und an dem ich mich trotzdem zu Hause fühlte, der einzige Ort, der in diesem Moment noch
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