2.02 Der fluesternde Riese
diesem Geheimnis. Es diente dazu, meine Angst zu vergraben. Meine Angst vor dem Scheitern und davor, nicht gut zu sein, nichts wert zu sein und nichts zu bedeuten. Genau diese Angst hatte ich ganz tief in mir vergraben. Ich hatte sie vor mir und allen anderen versteckt – doch jetzt stand sie vor mir. In Form von Billi, dem Penner, und der lachte mich aus.
Ich ballte die Fäuste. Ich fletschte die Zähne. Ich musste sie töten. Die Angst musste zurück in ihr finsteres Grab. Ich stürzte mich auf ihn. Ich schlug ihn und wollte ihn würgen, doch seine zwei Dutzend Mäntel waren einfach zu dick. Zu dick und zu weich. Meine Schläge verpufften wie in einem ganz großen Kissen, und meine Arme und Hände rutschten immer wieder von ihm ab.
„Billi, oh, Billi! Warum machst du das, Billi? Sie hat mich verraten!“ Ich schluchzte, als wäre ich fünf Jahre alt. „Sie hat zwei Jahre verhindert, dass wir nach Donnerschlag gehen. Sie hat alles getan, damit sich nichts ändert. Und jetzt geht sie weg. Sie lässt mich im Stich!“
Ich fiel auf die Knie. Ich grub meine Finger in den sandigen Boden und wollte, dass Billi endlich verduftet.
„So hau doch schon ab!“, schrie ich verzweifelt.
Doch Billi blieb da. Er seufzte und stöhnte. Er drehte die Baseballkappe auf seinen Ohren und fuhr sich mit der Riesenpranke durch das Erbsengesicht.
„Tja“, sagte er leise, „ich glaub, Vanessa hat was gedingst. Sie ist wohl gewachsen.“
‚Wie bitte? Was? Nahm er das Biest jetzt auch noch in Schutz?’
Ich hielt mir die Ohren zu, doch ich hörte ihn trotzdem. Das, was er sagte, war längst in mir drin. Ich wusste es schon, obwohl ich’s nicht wollte.
„Sie hat wohl gelernt, dass es ein Heckmeck war. Hihi, ein Fehler. Ein Falsch. Bumm! Bäng! Ja, es ist absolut Heckmeck, wenn man verhindert, dass sich etwas verändert, wenn sich etwas verändern will.“
„Aber sie hat es geschworen?“, widersprach ich ihm trotzig.
„Ich weiß. Sie und Rocce und Deniz und Felix und Fabi und Dingsda und Dingsda und …“ Er seufzte verzweifelt. „Und wenn du auch gewachsen wärst, wärst du genauso abgehauen. Du hättest den Dings, den Kindergarten, verlassen.“
Der Satz war ein Messerstich. Er traf mich mitten ins Herz. Ich schaute ihn an, und ich flehte ihn an, dass er aufhören sollte: Bitte sei still!
Doch Billi war noch nicht fertig mit mir.
„Ich weiß“, seufzte er. „Ihr habt es euch alle ganz heilig geschworen:
Wer die Wilden Kerle verlässt, der ist ein Verräter.
Und das war ganz groß. Verflucht groß sogar, Marlon.“ Er lächelte mich jetzt zum ersten Mal an. „So muss man alles in seinem Leben beginnen. Dass es für immer ist und ewig.“ Er lächelte mich noch einmal an. „Aber das kennst du doch, oder? Wenn man noch wächst, wird einem selbst die größte Jacke irgendwann einmal zu klein. Man wächst aus ihr raus. Man braucht eine neue. Und das ist nicht schlimm. Nein, ganz im Gegenteil. Das andere ist das Schlimme, Marlon. Wenn man sich in die Jacke einnäht, obwohl sie zu klein ist. Wenn man sich einnäht, wie in ein Grab.“
Er musterte mich durch das Loch über dem Größenverstellband der Mütze.
„Kapierst du nicht endlich, was ich da dingse? Wenn du das tust, bleibst du für immer klein. Für immer und bäng! Oh, und das tun ganz viele. Sie tun es aus Angst davor, dass sich etwas verändert und dass sie dafür vielleicht nicht gut genug sind.“
Ich schluckte und schniefte, und dann schniefte er auch.
„Ja, zum Beispiel auch ich.“ Er zog sich den ersten Mantel aus. Den ersten und zweiten und dann auch den dritten. „Und wenn du das dingst. Wenn du aufhörst zu wachsen, Marlon, dann helfen dir später auch nicht mehr zwei Dutzend Dinger.“
Er zog den fünften und sechsten aus. Den siebten und achten.
„Dann bleibst du ein Pimpf oder ein dürres Gerippe. Bäng, Bamm, hihi!“
Er riss sich alle Mäntel vom Leib, bis er nichts mehr anderes trug als einen Unterhosenoverall mit einer aufknöpfbaren Popoklappe.
„Dann wirst du wie ich!“ Er sagte das zornig und traurig und freundlich.
„Das ist es, was wir euch sagen wollten. Deshalb haben wir euch verspottet. Deshalb haben wir uns zusammengetrommelt und gegen euch gekickt. Deshalb haben wir euch aus euren Kinderzimmern geworfen: Damit ihr verflucht und verteufelt, gedingst und hihi, endlich zu lernen beginnt, was ihr noch nicht könnt.“
Ich stand langsam auf. Als ob mir gefiel, was Billi da sagte, fühlte ich mich plötzlich wieder
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