2030 - Chimaerenblut
gut selbst helfen. Sonst hätten sie ihn schon längst. Für den Moment kannst du nichts für ihn tun. Wenn er unschuldig ist, und da glaube ich dir, dann wird ihn ein guter Anwalt raushauen. Sollte er sich bei dir melden, sag ihm, du hast Freunde, die ihm einen geeigneten Anwalt besorgen.«
27
Sonntag, 19. Mai, Luxemburg:
Es war kein Traum. Thomas Garden schlug die Augen auf und blickte auf die roten Locken von Antonia Großkopf. Er musste sich beherrschen, um nicht die Hand nach ihr auszustrecken, denn er wollte sie nicht wecken. Er wollte nur ihren Anblick noch eine kleine Weile genießen.
Vielleicht fangen sie so an, die guten Jahre, dachte Thomas Garden. Die letzten beiden Nächte waren das erste bisschen Privatleben, das er sich seit Jahren gegönnt hatte. Dabei hatte es zunächst nicht nach Urlaub ausgesehen. Er war am Freitag noch vor Sonnenaufgang mit seiner Kollegin Antonia in Luxemburg gelandet. Sie wollte filmen, während er die Interviews führte. Den ganzen Tag über hatten sie entweder vor dem Gerichtshof gelauert oder mit Politikern, Juristen und Bürgern Gespräche geführt und dabei live gesendet.
In den Tagen vor dem Entscheid waren sie an Schulen gewesen, in Familien und in Pflegeheimen, um mit Opfern zu reden. Nach dem Gerichtsentscheid hatten sie bis spät in die Nacht im Hotelzimmer gesessen und weitergearbeitet, um das Material der Betroffenen mit den Statements von Politikern und Juristen zu mischen und neu zu schneiden. Weit nach Mitternacht schickten sie die Daten in die Redaktion.
»Die Opfer müssen ein Gesicht bekommen«, hatte Thomas Garden gesagt, und Antonia Großkopf hatte plötzlich geweint. »Ich habe damals mein Kind verloren. Es war ein Jahr alt. Unsere Ehe ist gescheitert. Und jetzt dürfen die Schuldigen so weitermachen wie bisher?«
Er hatte Antonia in die Arme genommen, um sie zu trösten, aber sie hatte sich herausgewunden und den Kopf in den Nacken geworfen. »Ich werde weiterkämpfen. Wir machen gute Arbeit. Das ist etwas anderes als die weichgespülten Nachrichten, die nur Presseerklärungen enthalten und die Talkrunden, in denen Politiker, Pharmavertreter und Wissenschaftler ungefiltert ihre Meinungen und Ansichten in die Welt setzen können.«
Dann war Antonia Großkopf abrupt aufgestanden, hatte die Minibar geöffnet, eine Flasche Wein hervorgeholt und wortlos zwei Gläser auf den Tisch gestellt. Gegen Morgen waren sie im Bett gelandet. Antonia war beim Sex ebenso zielstrebig wie im Job. Sie schien von einer Leidenschaft getrieben, als würde sie jeden Moment ihren letzten Atemzug tun.
Bis mittags hatten sie geschlafen. Dann wurden sie unvermittelt von der Redaktion angerufen, Luxemburg erschütterten heftige Krawalle und Demonstrationen. Sie griffen Kamera und Aufnahmegerät und stürzten sich erneut in die Arbeit. Fassadenkletterer hatten den Europäischen Gerichtshof erstürmt und Plakate über die goldglänzenden Türme gerollt, auf denen stand »Volle Kassen für Medigood , Tränen für die Opfer.«
Wieder hatten sie bis spät in die Nacht ihre Aufnahmen geschnitten und den fertigen Bericht in die Redaktion geschickt. Gegen Morgen hatten sie sich stürmisch geliebt. Dann hatte Thomas Garden kurz Josi angerufen, er wollte sie einfach nur in Sicherheit wissen, denn natürlich hatte er die Nachrichten gesehen und wusste, was in Chicago los war. Doch die Hildens waren eine reiche Familie. Wenn Josi irgendwo sicher war, dann in dem geschützten Anwesen und den gepanzerten Wagen der Hildens. Die Reichen waren immer die Letzten, die es bei Krawallen erwischte.
Jetzt blickte er auf Antonias rote Locken und wünschte, das Wochenende würde nie vorüber gehen. Er hauchte einen Kuss auf ihre nackte Schulter und strich ihr zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Geh nicht weg«, murmelte sie.
»Ich hole uns einen Kaffee.«
Antonia räkelte sich zufrieden.
Thomas Garden schlüpfte aus dem Bett, zog seine Sachen über und schloss die Tür hinter sich. Zehn Minuten später balancierte er ein volles Tablett ins Zimmer und hielt ihr eine Tasse mit duftendem Kaffee unter die Nase.
Antonia schlug die Augen auf, zog ihn zu sich herunter und küsste ihn.
»Wir haben einen herrlich sonnigen Balkon«, lockte er. Sie nippten kurz am Kaffee, doch dann konnten sie die Lippen nicht voneinander lassen. Sie hatten das Zimmer bis Montagfrüh verlängert und ihre Flüge umgebucht. Jetzt freuten sie sich auf einen freien Sonntag.
Den zweiten Kaffee und einen Snack
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