2030 - Chimaerenblut
besorgte Antonia fünf Stunden später. Garden nutzte die Zeit, um die übrigen Nachrichten zu lesen, für die er am Morgen zu müde gewesen war. Er überflog die Schlagzeilen, dann öffnete er sein persönliches Postfach. Ein Newsletter von FlashAC war im Spam-Ordner gelandet, Garden hätte ihn fast übersehen. So ein Mist, er müsste seine Computereinstellungen ändern. Der Newsletter war bereits vom Freitag. Garden las »Illegale Chimären-Versuche auf dem Hof von Karl Anton Wilmershofen .«
Besorgt runzelte er die Stirn und öffnete die Fotos, die FlashAC geliefert hatte. Erst dann war er beruhigter. Das waren definitiv nicht die Bilder, die Josi gemacht hatte. Trotzdem beschlich ein flaues Gefühl seine Magengegend und steigerte nachträglich seine Wut auf die Polizei. Deshalb hatten sie diesen Aufstand gemacht und waren durch seine Wohnung getrampelt. Es ging gar nicht um die Hühner und die Aktion der Tierschützer. Deshalb hatte es auch in der Nacht gebrannt. Natürlich, da hatte jemand Beweise vernichtet. Allerdings andere, als er damals vermutet hatte. Es muss weitere Räume gegeben haben, von denen Josi nichts gewusst hat. Noch nachträglich wurde er wütend auf diesen Leon Blanc, der seine Tochter da mit reingezogen hatte. Hatte der Aktivist die Bilder bei dem Einbruch gemacht?
Thomas Garden gab routinemäßig den Namen »Leon Blanc« in die Suchmaschine des SWeb ein.
Antonia Großkopf öffnete die Tür.
Er drehte sich um.
Ihr Lächeln erstarb im Gesicht. »Was ist passiert? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
Thomas Garden nickte. »Ein Schweinehund wurde ermordet. Und jemand, den ich kenne, soll der Mörder sein. Da ist was faul, das sagt mir mein journalistischer Instinkt.«
Er blickte Antonia Großkopf ernst an. »Was das Schlimmste ist, wenn die Nachrichten von FlashAC der Wahrheit entsprechen, dann war die Chimären-Katastrophe für Pharma und Politik keine Warnung, sondern die Aufforderung so weiter zu machen wie bisher. Dann war das erst der Anfang, und wir gehen jetzt in die zweite Runde.«
28
Sonntag, 19. Mai 2030, Chicago:
Von einem auf den anderen Moment war Josi hellwach. Noch im Liegen hangelte sie nach ihrem Kommunikator und prüfte die eingegangenen Nachrichten.
Nichts.
Sie wählte Leons Nummer. »Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar.«
Leon wo steckst du?
Ihr Hals brannte. Das unangenehme Gefühl ließ sich nicht länger verdrängen. Mit sanftem Druck tastete sie die schmerzende linke Halsseite ab. Hatte sich eine Kieme entzündet? In Berlin trug sie wenigstens Zuhause kein Tuch, um Luft an die Haut zu lassen. Aber hier vor Fremden fühlte sie sich unsicher ohne den schützenden Stoff.
Plötzlich kam ihr ein ungeheuerlicher Verdacht und ihr Herz begann zu rasen. »Bitte nicht!«, hauchte sie und drückte vorsichtig gegen die brennende Kieme.
Ich irre mich, dachte sie. Ich muss mich irren.
Dann strich sie mit dem Finger über die andere Halsseite. Auch hier fühlte sie dieselbe wunde Haut und die Kiemen, die wie lange Messerschnitte klafften. Für einen Moment glaubte sie, nicht mehr atmen zu können. Zittrig schob sie die Bettdecke beiseite und setzte die Füße auf den Boden. Ihr war schlagartig übel.
Tief durchatmen!
Endlich löste sich ihre Starre, und sie ging wie in Trance zum Spiegel. Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie wischte sie weg, tastete erneut zum Hals. Das Salz an ihren Fingern brannte auf der Schleimhaut.
Sie schluchzte und zählte.
Eins.
Zwei.
Drei.
Vier.
Dann blinzelte sie, um den Tränenschleier zu vertreiben.
Fünf!
Etwas, das niemals hätte eintreten dürfen, war doch geschehen. Sie hatte über Nacht auf jeder Seite des Halses eine weitere Kieme bekommen.
»Wieso geht es weiter?«, flüsterte sie ihrem totenbleichen Spiegelbild zu. Mit Ende der Pubertät sollte es doch vorbei sein?
Muss ich jetzt wieder von Arzt zu Arzt laufen?
Sie sah auf die Uhr. Die Hildens warteten sicher schon mit dem Frühstück.
Ich könnte flunkern. Migräne…
Sie schüttelte den Kopf. Ethan würde sie durchschauen. Er mit seinen wasserblauen Augen. Ihn konnte sie nicht so leicht täuschen. Es wunderte sie längst, warum er sie nicht noch einmal auf das Halstuch angesprochen hatte. Er musste doch etwas ahnen. Oder war er nur so taktvoll und wollte ihr die Chance lassen, es selbst zu erzählen?
Sie ging duschen. Danach sprühte sie den Hals mit einem Spray gegen Entzündungen ein und legte ein Halstuch um.
Die Kiemen
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