2030 - Chimaerenblut
wollte Ethan gerade antworten, da rief er durch die geschlossene Tür: »Lass dir Zeit, es ist heute alles etwas später.«
Als sie das Zimmer eine halbe Stunde später verließ, wäre sie fast auf eine dunkelrote Rose getreten. Sie stellte die Blume in einen Zahnputzbecher.
Am Frühstückstisch herrschte bedrückendes Schweigen. Ethan zupfte an seinen schwarzen Manschettenknöpfen anstatt zu essen. Er trank mehrere Tassen Kaffee. Dann schaltete er den Lampen-Monitorwürfel an, der über dem Tisch hing.
»Die Nachrichten«, sagte ein Sprecher. »Wie erst jetzt bekannt wurde, hat eine Gruppe von Rebellen weltweit führende Politiker und Wissenschaftler entführt. Wie die Polizei vor einer Stunde mitteilte, verlangen sie mehr Rechte für die Chimären und drohen, wenn die USA die Chimären-Gesetze verabschiedet, ein Virus freizulassen, das weltweit alle Nicht-Chimären vernichtet. Es wird befürchtet, dass morgen früh bei Börsenöffnung sämtliche Kurse einbrechen. Die Präsidentin hat für zwölf Uhr eine Sondererklärung an die Nation angekündigt. Sie ruft zur Besonnenheit auf. Der Schaden für die Wirtschaft könne immens sein, wenn jetzt nicht vorausschauend gehandelt würde. Sie plädiert für Standfestigkeit; Amerika lasse sich nicht in die Knie zwingen. Ansonsten würde der Börsenhandel ausgesetzt.«
Der Sprecher wechselte zu einer Moderatorin nach Washington. »In einigen Städten kam es heute Morgen zu Plünderungen und Aufständen«, berichtete sie, während der Wind ihr die Haare zerzauste. Im Hintergrund war das Weiße Haus zu sehen.
»Jetzt gibt es Krieg«, sagte Ethan leise und schaltete ab.
»Warum musst du immer so übertreiben?«, zischte sein Vater.
»Ha«, Ethan warf den Kopf in den Nacken. »Wer hat denn bereits am Freitag die Risikoaktien abgestoßen? Weshalb weißt du immer alles früher, als alle anderen?«
»Junge, nicht das schon wieder!«
»Worüber willst du dann mit mir sprechen? Dad! Das Wetter?«
Der Vater schwenkte kurz den Blick über die Runde. Dann erhob er sich. »Alle packen! Wir reisen morgen früh ab. Wenn ihr mich jetzt bitte entschuldigen würdet, ich muss telefonieren und den Flug buchen.«
Ethan erhob sich und machte eine unauffällige Kopfbewegung Richtung Tür. Josi folgte ihm.
»Abreisen. Was meint dein Dad?«, fragte sie kurz darauf im Salon. Ethan klimperte stehend am Klavier die Tonleiter rauf und runter, schlug ein paar Moll-Akkorde an und klappte dann vorsichtig den Deckel zu.
»Abreisen heißt Packen! Alle.«
»Ethan, klär mich auf! Wohin?«
»Dubai!«
»Dubai?«
»Wir haben da eine Super-Yacht. Wenn es hier zu kalt ist und die Grippewellen durchs Land jagen verbringen wir dort unseren Urlaub.«
Sie sah ihn an, als müsse einer von beiden verrückt sein, er oder sie.
»Impfung ist gut, sicherer Abstand ist besser«, sagte er schulterzuckend.
»Aus welchem Werbeprospekt hast du das denn?« Sie rollte mit den Augen. »Erschießt euch doch gleich alle, dann kann euch nichts mehr passieren.«
»Wer wird denn jetzt von uns beiden unsachlich. Du oder ich?«
»Noch eine letzte Frage, bucht dein Vater für mich den Rückflug nach Deutschland gleich mit, oder muss ich das selber machen?«
Ethan hustete. »Wieso das denn? Du kommst natürlich mit. Dein Au-pair-Vertrag bleibt gültig.«
»Ist es da so nett wie in der Summer Lounge?«, zischte Josi.
»Freu dich doch, da bist du endlich in deinem Element«, giftete er.
Das hätte sie treffen sollen, aber tatsächlich löste es einen gegenteiligen Reiz aus.
Endlich das Meer.
Josi packte. Dann rief sie ihre Mutter an. Ihr Stiefvater meldete sich, sie legte wortlos auf. Eine Minute später rief ihre Mutter zurück, fragte, ob es ihr gut ginge und erzählte, was in Europa los war, seit die Entschädigungsklagen für die Chimären niedergeschmettert worden waren. »Stell dir vor, überall Demonstrationen gegen die Pharma . Hoffentlich schwappt der Hass nicht auch noch auf die Mediziner über. Ich sage immer, Marcus sei vorsichtig! Ach, was bin ich froh, dass du so weit weg von alledem und bei den Hildens in Sicherheit bist.«
So weit weg von alledem, dachte Josi. Liest sie denn gar keine Zeitung mehr, seit sie mit Doktor Mill verheiratet ist, oder ist sie vom vielen Windelwechseln verblödet?
Sicherlich um es ihr leichter zu machen, sagte ihre Mutter schließlich: »Dieser Leon hat sich nie wieder gemeldet, da siehst du, wie egal du ihm bist.«
So beiläufig wie irgend möglich erzählte Josi,
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