2030 - Chimaerenblut
endlich die schwere Grippe überstanden hatte. Sie isst doch so gerne Fisch-Stäbchen. Wo soll sie auch sonst das Fisch-Gen herhaben?« Der Polizist blickte in die Ferne. »Sie hat sich sehr verändert. Ich erkenne meine eigene Tochter nicht wieder.« Mit einem Ruck drehte er sich zu Leon um, als erinnerte er sich wieder, was seine Aufgabe hier war. Doch statt nach dem Ausweis zu fragen, schlug er mit der Hand gegen den Türholm . »Weiterfahren.« In sein Gesicht war die undurchdringliche Fassade des Polizisten zurückgekehrt, doch in seinen Augen schimmerten Tränen.
Eine Stunde später begann Leon Kevin auszufragen. Leon hatte zwar nicht das Gefühl, der Kontaktmann verschwieg ihm etwas, ihn störte jedoch die Selbstverständlichkeit mit der er ihn ständig mit »Mann« ansprach, anstatt mit seinem Namen, und natürlich, dass er den Boss raushängen ließ. Leon brauchte Kevin, um in die Fabrik von Wilmershofen zu kommen, darüber war er sich bewusst, aber es wurde Zeit, mehr über den hageren Kerl neben sich zu erfahren. Leon begann mit unverfänglichen Fragen.
Kevin schien nichts zu bemerken und erzählte in seiner knappen, emotionslosen Art. Die polnischen Behörden würden sich noch weniger für den Tierschutz interessieren als die deutschen. Sie griffen nur ein, wenn sie ein Seuchenrisiko befürchteten. Die Fabrik schien nie irgendwelchen Anlass zu einem Skandal gegeben zu haben. Zumindest sei ihm nie etwas zu Ohren gekommen. Die Leute verdienten in solchen Fabriken einen Hungerlohn, doch sie murrten nicht. Sie wollten ihren Job nicht verlieren.
Leon war noch immer nicht zufrieden. Was war Kevins Motivation für die Aktion? Warum war er ausgerechnet bei dieser Tierschutzgruppe gelandet? Und wer war der Mensch hinter der beherrschten Fassade? Leon räusperte sich, seine Fragerei durfte nicht wie ein Verhör wirken.
»Kevin, warum bist du so engagiert bei den Aktivisten?« versuchte er es im beiläufigen Tonfall. »Du bist doch selbst gar keine Chimäre. Was ist dein persönlicher Antrieb? Schließlich sind die Aktionen doch ganz schön gefährlich…«
…und erzähl mir jetzt bitte nicht, du hast Angst vor Seuchen , dachte er den Satz zu Ende. Das haben wir alle.
Kevin konzentrierte sich auf den Straßenverkehr und schwieg eine Weile. Ein leichtes Zucken umspielte seine Mundwinkel, dann begann er seinen Lebenslauf herunterzubeten.
»Meine Mutter kam zwar aus Polen, doch ich bin in Essen aufgewachsen. Meine Eltern haben immer hart gearbeitet. Als sie genug gespart hatten, zogen sie nach Polen zurück und renovierten ein kleines Haus in Grenznähe. Ein Jahr später kam die Influenza . Meine Eltern hatten sich nicht impfen lassen, denn sie hofften, dass es schon nicht so schlimm würde. Ich jobbte zu dieser Zeit in Moskau in einer Baufirma. Wir mussten uns dort impfen lassen. Vorschrift vom Arbeitgeber. Wer krank war, wurde entlassen. Meine Schwester war erst zehn. Als sie die Grippe bekam, war es für die Vorsorge-Schutzimpfung zu spät. Doch der Standby-Impfstoff war inzwischen rar. Ärzte ließen sich bestechen. Die letzten Ersparnisse meiner Eltern gingen drauf, um die Impfung für meine Schwester zu bezahlen.«
Kevin machte eine Pause. Plötzlich schien es ihm schwer zu fallen, weiter zu reden. Nach einer Weile nahm er den Faden wieder auf. »Meine Eltern bekamen die Influenza auch und starben am Virus. Ich zog in ihr Haus, um meine Schwester in ihrer gewohnten Umgebung zu lassen. Ich kümmerte mich um sie, denn sie hörte plötzlich auf zu wachsen. Die Ärzte dachten, es sei der Schock. Dann verformten sich ihre Hände, die Finger wuchsen zusammen. Als sie zwölf war, erfuhr ich die Wahrheit aus den Medien. Das Chimären-Gen hatte sie so verändert. Mit fünfzehn hatte sie keine Arme mehr, nur noch zwei flügelähnliche Stummel. Ein Jahr später bekam sie Federn. Ein Engel ohne Arme.«
»Und deshalb setzt du dich für die Flügelartigen ein?« Leon grübelte über die Begründung, doch er wusste, so dachten viele Aktivisten. Sie verbrüderten sich mit den Tieren, weil ihnen die Menschen das Virus angetan hatten und weil sie zum ersten Mal mit den Tieren fühlten. Quäle nie ein Tier, dachte Leon, denn es fühlt wie wir.
Kevin musterte Leon. »Sehe ich etwa Skepsis in deinem Blick?«
Leon biss sich auf die Lippe. »Nein, ist schon okay.«
Kevin umklammerte das Lenkrad und sprach weiter. »Als meine Schwester sechzehn war, ging sie eines Tages spazieren. Sie konnte ja nicht arbeiten mit ihren
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