2030 - Chimaerenblut
Mann.«
»Schön dich zu sehen, Kevin. Verflucht kalt heute Nacht.« Leon zog den Rucksack von den Schultern, um ihn ins Auto zu legen.
»Pack deine Sachen in den Kofferraum. Muss ja nicht jeder gleich sehen, dass du auswandern willst.«
»Was ist mit dir passiert?« Leon ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und musterte Kevin. Sein Gesicht wirkte noch hagerer als er es in Erinnerung hatte. An der Stirn hatte er eine frische Platzwunde.
»Das ist nichts, nur ein Kratzer.« Kevin tippte an die Stelle. »Eine kleine Rempelei mit einer Hunde-Chimäre. Der Hund wollte an meine Geldbörse. Ich habe ihm ein paar verpasst. Nichts worüber du dir Gedanken machen müsstest, Mann.«
Leon zog eine Augenbraue hoch, verkniff sich aber einen Kommentar.
Kevin drehte den Zündschlüssel um und fuhr los. »Wir nehmen die Nebenstraßen. Ich schätze wir brauchen gut neun bis zehn Stunden.«
Leon nickte. Einzelne Streckenabschnitte der Autobahn waren videoüberwacht. Er hätte riskiert geschnappt zu werden, denn die Bilder wurden sekundenschnell mit den Fotos im polizeilichen Suchsystem abgeglichen. Der Computer würde sofort anschlagen.
»Wenn ich dich am Steuer ablösen soll, dann sag Bescheid.«
»Lass gut sein. Ich bin die langen Strecken gewohnt und sowieso ein Nachtmensch. Ich bin eine Eule.«
»Eulen-Chimäre?«
»Nein, das ist nur eine alte Redensart.« Kevin blickte auf Leons Hals. »Und? Was machen deine Kiemen? Bereit zum…?«, er begann zu lachen, »…bereit zum Abtauchen?«
»Wenn es so rasant weitergeht, dann können meine Kiemen in ein paar Tagen einen Wal mit Sauerstoff versorgen.«
»Na zeig schon her, du übertreibst doch jetzt oder?«
Mit Unbehagen schlug Leon den Kragen seiner Jacke zurück, sodass die Kiemen sichtbar wurden.
Kevin pfiff durch die Zähne. »Respekt, Mann. Die sind nun wirklich nicht mehr zu übersehen.« Dann richtete er seinen Blick wieder auf die Straße.
Die warme Heizungsluft machte Leon müde. Er gähnte. »Ich bin total erledigt. Was dagegen, wenn ich etwas Schlaf nachhole?«
»Nein, wenn dich das Radio nicht stört?«
Leon schüttelte den Kopf. Schon nach fünf Minuten sank er in einen unruhigen Schlaf. Menschen umgaben ihn in seinem Traum, kamen näher, lachten. Tote und Lebende. Seine Eltern, seine Schwester, sein Onkel. Sie riefen ihm etwas zu. Doch als er die Hand nach ihnen ausstrecken wollte, verschwanden sie. Dann träumte er von Josi. Er schenkte ihr ein hellrotes Tuch, das sie öffnete und im Wind flattern ließ. Er blickte auf ihren Hals und zählte die Kiemen. Fünf an jeder Seite. Das erschien ihm falsch. Plötzlich saß Josi auf einem Pferd. Mit ernstem Blick schwenkte sie das Tuch wie eine Fahne und ritt davon. Sein Hals drückte. Er berührte die Seiten und fühlte Einschnitte. Panik befiel ihn. Seit wann hatte er Kiemen? Die Szene verschwand, und er war wieder in seiner Wohnung. Der Moment, als er mit Josi das letzte Mal telefoniert hatte. Er erinnerte sich, er hatte sie aus der Gruppe geworfen. Sein Hals brannte. Seine Mandeln fühlten sich wund an. Er spürte einen kühlen Luftzug und erwachte fröstelnd.
Kevin hatte das Fenster geöffnet, um frische Luft reinzulassen.
»Du hast wie ein Stein gepennt, Mann.«
»Sind wir schon da?« Leon gähnte.
»Dauert noch ein paar Stunden, Mann.«
»Ich habe einen Namen. Leon.«
Kevin warf ihm einen komischen Blick zu. »Schlecht geträumt, Ma…? Da vorne ist eine Tankstelle. Dort gibt es hoffentlich schon Frühstück und einen starken Kaffee, dann kriegst du vielleicht bessere Laune.« Er setzte den Blinker und bog auf den Parkplatz.
Der Miniladen, an der Tankstelle hatte seine besten Zeiten längst hinter sich. Die Wände waren schmutziggrau, die Bodenfliesen gesprungen, die ehemals weißen Gardinen dunkelgelb. Doch es duftete nach frisch gebrühtem Kaffee. Leon und Kevin quetschten sich in eine Sitzecke mit klebrigen Plastikstühlen und blickten auf den laufenden Fernseher. Ein Mann, der so dick war, dass er kaum durch den Gang passte, brachte ihnen Kaffee und Sandwiches. Dann verschwand er wieder hinter der Kasse und begann Kartons mit einem Cutter aufzuschneiden.
Leon biss ins Weißbrot. Es war pappig und schmeckte nach ranziger Mayonnaise. Sein Blick wanderte zum Fernseher. Ein Berliner Regionalsender brachte ein Morgenmagazin mit einem Mix aus Nachrichten, Kurzreportagen und Tipps für den kommenden Tag. Der Reporter plauderte so munter als würde er rotwangige Äpfel anpreisen. »Und jetzt kommen
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