2030 - Chimaerenblut
Deckel vom kochenden Wasser. Er nickte seinem Helfer zu. Der Blonde riss Wladimir vom Stuhl hoch. Gemeinsam zogen sie ihn zum Herd. Der Stoppelschnittige fixierte Wladimirs Augen, dann griff er dessen rechte Hand mit dem SWeb-Glove und tauchte sie ins zischende Wasser. Dabei murmelte er: »Was du wissen? Du jetzt reden.«
Der Handschuh verschmolz mit der verdampfenden Haut. Wladimirs Augen traten aus den Höhlen. Sein Körper wand sich unter dem festen Griff der beiden Männer. Er wusste, seine Schmerzen hatten gerade erst begonnen.
54
Mittwoch, 29. Mai Warschau, abends:
Leon hatte das Pferd wie verabredet zurückgebracht. Jonas bot ihm eine Mahlzeit an. Gegen eine kleine Spende für die Gemeinschaftskasse. Dankbar nahm Leon an. Er wollte jede Chance nutzen, um etwas über die Fabrik zu erfahren.
Die hungrigen Arbeiter, Männer und Frauen, darunter einige Kuh- und Pferde-Chimären, versammelten sich um den großen Holztisch, der mitten in der Gemeinschaftsküche stand. Einer der Männer hatte schwarzweiß geflecktes Fell von Kopf bis Fuß. Eine Frau mit dem halben Unterleib eines Pferdes kam zur Tür herein. Sie hatte vier Beine. Als sie Leon erblickte, wollte sie sofort wieder gehen, doch Jonas raunte ihr zu, der Gast sei auch eine Pferde-Chimäre. Daraufhin stellte sie sich an den Tisch.
Wasser tropfte zischend auf die Herdplatte. Jonas Frau, Marga, zog den Deckel vom Kochtopf. Heißer Dampf stieg auf. »Autsch«, fluchte sie.
»Lass mich das machen.« Leon sprang auf.
»Die Nudeln sind gar. Du musst sie nur noch ins Sieb schütten.« Sie nickte Richtung Spüle.
Er ergriff ein Handtuch, um sich nicht an dem Topf zu verbrennen.
Es klopfte an der Tür. Ein Mann, der wie eine jüngere Kopie von Jonas aussah, erschien im Türrahmen. Er war ebenso blond, nur etwas schmaler im Gesicht. Die Leute am Tisch hoben kurz den Kopf, nickten und redeten weiter.
Jonas zeigte auf den freien Platz neben sich auf der Bank. »Quentin, komm und setz dich! Du kannst mit uns essen.«
Sein Bruder setzte sich an den Tisch, krempelte die Ärmel hoch, und Leon erkannte, dass auch er eine Chimäre war. Quentin hatte schwarz-weiß geflecktes Kuhfell auf den Armen.
Marga stellte Schüsseln mit Pellkartoffeln, Kräuterquark und Rühreiern auf den Tisch.
» Smacznego «, murmelte der Mann mit der Narbe, der am Nachmittag so grimmig gewirkt hatte. Er nickte Leon kurz zu. Offensichtlich hatte er seine Meinung geändert, seit das Pferd wie verabredet zurück im Stall war.
Zusammen mit Jonas‘ Bruder waren sie nun fünfzehn Leute am Tisch. Leon setzte sich zu den deutschsprachigen Landsleuten.
Jonas probierte den Kräuterquark und grinste seine Frau an. »Ist essbar, Marga.«
»Ich hasse Kochen«, seufzte sie mit einem kurzen Blick zu Leon.
»Meine Frau repariert lieber die Schaltkreise im Trecker. Sie hat in Deutschland eine Ausbildung zur Mechatronikerin gemacht.«
»Dass ich lieber in Schaltkreisen als in Kochtöpfen rühre, hast du vor unserer Hochzeit gewusst.« Sie lachte. Dann wurde sie ernst. »Was ist los mit dir, Schwager? Du siehst so bedrückt aus.«
Quentin ließ die Gabel in seinen Teller fallen und starrte auf sein Essen. »Ich bin in spätestens vier Wochen arbeitslos. Die schließen die Hühnerfabrik.«
Leon horchte auf. »Die östlich von Warschau? Das ist aber sehr plötzlich? Was ist denn passiert?« rutschten ihm die Fragen ohne Nachzudenken heraus.
Quentin blickte ihn mit großen Augen an, als würde er ihn erst jetzt bemerken.
»Das ist Leon«, sprang sein Bruder ein. »Er hat heute ein Pferd von uns gemietet. Er ist in Ordnung.«
Erneut starrte Quentin auf seinen Teller. »Die verarschen uns. Man munkelt, die Hühnerzucht geht nach China, die Legefabrik nach Russland, und die Eiweißproduktion für die Industrie ebenfalls. Unser Standort sei zu teuer geworden.« Die blonden Haare fielen ihm ins Gesicht und warfen Schatten auf seine Augen. »Das Labor räumen sie schon nächste Woche. Die scheinen es verdammt eilig zu haben.«
»Was für ein Labor?« fragte Leon so beiläufig wie möglich und stocherte in den Nudeln.
»Keine Ahnung. Ich glaube, sie testen dort einzelne Hühner und Eier auf Krankheitserreger und nehmen Produktproben.«
»Macht das nicht das Veterinäramt?«
»Kann schon sein. Aber die haben auch ein eigenes Labor.«
»Hier in der Fabrik?«
»Ja.«
»Kommt man da rein?«
»Wieso? Nein. Da kommt man nur mit einer speziellen Chipkarte rein. In dem Labor laufen nur die Studierten
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