2030 - Chimaerenblut
er würde nicht mehr einschlafen können. Die Nacht war vorbei. Leon wählte erneut die Nummern seiner Freunde, die er verzweifelt seit gestern versucht hatte zu erreichen. Simon? »Der Angerufene ist vorübergehend nicht im SWeb !« Quentin? Josi? Es läutete, aber niemand nahm ab. Wladimir… Er zuckte bei dem Gedanken an ihn zusammen. Gestern, nach der Nachricht von Olgas und Marcs Tod, hatte er natürlich zuerst Wladimir angerufen.
Ein Fremder hatte sich mit stark rollendem Akzent gemeldet. »Hallo? Ich bin ein Freund von Wladimir. Wladimir ist krank.«
»Kann ich ihn sprechen?«
»Geht nicht.«
Abrupt hatte Leon die Verbindung unterbrochen und es sofort erneut probiert.
Wieder hatte sich der Fremde in gebrochenem Deutsch gemeldet. Doch dieses Mal fackelte er nicht lange. »Du wollen Wladimir lebend wiedersehen? Dann du kjommen hier vorbei.«
Panisch hatte Leon aufgelegt und Kevin angerufen.
»Hey, wo steckst du, Mann?«
»Wladimir ist in Gefahr. Freunde von mir sind bereits tot. Ermordet. Und ich werde verfolgt. Was soll ich nur tun?«
»Was ist passiert?« Kevins Stimme klang beunruhigt.
»Ruf die Polizei. Wladimir wohnt in der Szczecin-Straße 49.«
»Wenn du willst, schauen wir zusammen bei ihm vorbei.«
»Das ist zu gefährlich. Der Mann könnte noch in der Wohnung sein. Ruf die Polizei.«
»Okay. Ich melde mich, sobald ich was weiß.«
»Danke.«
Am Nachmittag kam endlich der erwartete Rückruf von Kevin. Seine Stimme klang brüchig. »Wladimir wurde ermordet.«
Leon brach der kalte Schweiß aus. »Wie ist er gestorben?«
»Aufgesetzter Schuss. Wo können wir uns treffen. Ich kann dich verstecken.«
»Ich habe bereits ein Versteck. Ich melde mich wieder«, hatte Leon das Gespräch beendet.
Wie konnte das passieren? Wie hatten sie sein Versteck bei Wladimir überhaupt aufgestöbert? Niemand kannte diesen Unterschlupf. Und warum Wladimir?
Leon rollte sich aus den nassgeschwitzten Laken und setzte sich auf die Bettkante. Die Wände in der Absteige waren feucht und modrig. Auf dem Teppich prangte ein alter Fleck. Er konnte noch immer riechen, was es war. Er verfluchte seinen Geruchssinn und lauschte zitternd auf die vorbeifahrenden Autos.
Quentin, du auch? , ging ihm ein weiterer Gedanke durch den Kopf. Leon hatte sich von Jonas die Nummer geben lassen. Sein Herz pochte heftig, als er jetzt zum x-ten Mal die Nummer wählte. Doch wieder nichts. Der Angerufene war wie befürchtet nicht im Netz.
Am gestrigen Abend war Leon wie verabredet auf dem Hof erschienen. Nur mühsam hatte er sich beherrscht und das ausgebrannte Auto von Olga und Marc und den Mord an Wladimir verschwiegen. Er wollte nur noch eines: Die Arbeitspapiere für die Fabrik. Den Zugang, den ihm Quentin versprochen hatte. Zunächst hatte er sich im Stall nützlich gemacht. Dann hatte er in der großen warmen Küche mit den anderen gesessen und auf Quentin gewartet. Die Gespräche hatte er wie im Nebel gehört. Zu sehr war er mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt gewesen. Das Telefon hatte geläutet. Jemand hatte abgenommen und Jonas gerufen. Gesprächsfetzen waren an Leons Ohr gedrungen. »Was ist passiert?« Jonas hatte sich mit bleichem Gesicht umgedreht. »Quentin ist nach der Schicht nicht nach Hause gekommen!« Seine Worte waren ein einziger Vorwurf.
Nie würde Leon den Anblick von Jonas‘ schmerzerfülltem Gesicht vergessen, als er das Bike von Wladimir nahm und den Hof verließ. »Finde ihn und bring ihn heil zurück«, hatte Jonas ihm mit matter Stimme hinterher gerufen.
Doch wie sollte er das anstellen? Sein Zutritt zur Fabrik war wie eine Seifenblase geplatzt. Höchstwahrscheinlich war Quentin bereits tot.
Und jetzt war er hier in der Pension und dachte voller Sorge daran, dass er heute Abend mit Kevin in die Fabrik einbrechen müsste. Würde er Quentin als Leiche finden? Kämen sie da überhaupt rein und lebend wieder raus? Und durfte er Kevin da mit hineinziehen?
Mit einem Ruck sprang Leon vom Bett auf und stieg in seine Schuhe. Er hatte in Jeans und Shirt geschlafen, er hatte nichts dabei, keine Kleidung zum Wechseln, kein Rasierzeug, nur die Jacke, mit der er gekommen war. Er zog sie über. Er musste los. Er brauchte eine Waffe. Und er musste bis heute Abend lernen damit umzugehen.
Der Kummer über den Verlust seiner Freunde machte ihn rasend. Leon schlug mit der Faust gegen die Wand bis es schmerzte. Dann zog er die Vorhänge auf und blickte aus dem Fenster. Es regnete wieder mehr. Er schaute nach oben in
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