2084 - Noras Welt (German Edition)
älter, und sie sitzen zusammen in der Kissenkammer und spielen Mensch-ärgere-dich-nicht. Sie hat die roten Spielfiguren und er die blauen.
Er sagt, das Spiel stamme aus Indien. In Indien hätten die Könige nur mit lebenden Spielfiguren gespielt, mit jungen Frauen aus ihrem Harem auf einem Spielbrett aus roten und weißen Pflastersteinen.
Der Junge hat drei Spielfiguren auf einem ganz normalen Feld versammelt. Jetzt würfelt er noch einmal und hat alle vier Figuren auf dem Feld. Als er behauptet, gewonnen zu haben, weil das ein »Minarett« sei, streiten sie sich über die Spielregeln und hören auf …
Sie stehen draußen unter der großen Blutbuche und schauen ins Tal. Ein entlaufenes Dromedar nähert sich der Tankstelle. Der arabische Junge dreht sich zu Nova um und sagt:
»Mein Ururgroßvater ist mit Dromedaren gereist, mein Urgroßvater ist im Mercedes gefahren, und mein Großvater ist im Jumbojet um die Welt geflogen – und jetzt reisen wir wieder mit Dromedaren.«
Er mustert Nova nachdenklich und fügt hinzu:
»Das Öl war ein Unglück für mein Land. Wir sind über Nacht reich geworden, aber jetzt sind wir wieder arm. Man ist nicht reich, wenn man kein Land mehr hat, in dem man wohnen kann.«
Dann muss der Junge weiter. Eine neue Gruppe Araber mit Dromedaren hat sich bei der Karawanserei versammelt. Rauch steigt von Grills und aus Kochtöpfen auf. Die Urgroßmutter kommt aus dem Haus, um Abschied zu nehmen, und der Junge zieht einen roten Ring vom Finger. Er gibt ihn Uma zum Dank für Herberge und Pflege.
Nova ist erst enttäuscht, dass sein Dank nur Uma gilt. Doch dann dreht der Junge sich zu ihr um und streicht ihr übers Haar. Er sagt, die Urgroßmutter sei schon alt, und eines Tages werde Nova den Ring erben. Er sagt, es sei ein echter Aladinring und stamme aus dem alten Märchen aus Tausendundeine Nacht.
Nova schaut in zwei dunkle, fast schwarze Augen und ahnt ein großes Geheimnis.
DAS ARCHIV
Als Nora wieder zu sich kam, saß sie vor dem schmalen Fenster auf einem blauen Puff. Sie war total erschöpft. Sie war auf Los zurückgegangen, 72 Jahre zurück in der Zeit. Die Welt war wie ein Handschuh, den sie umstülpen und so oder so benutzen konnte. Sie war zwei Personen gleichzeitig. Sie war 2084 sechzehn und würde morgen auch sechzehn werden.
Morgen war ihr Geburtstag!
Sie zog den Ring vom Finger und spielte damit. Es hieß, der Rubin habe die Farbe von Taubenblut: tiefrot, aber mit einem Stich ins Blaue. Vor dem Fenster sitzend, konnte Nora sehen, wie er sich in der Scheibe spiegelte. Es war ein sogenannter Sternrubin, in dessen glänzender Oberfläche ein beweglicher sechszackiger Stern funkelte.
Was sie über die Geschichte des Rings wusste, reichte ungefähr hundert Jahre zurück. Aber sie hatte auch viel ältere Geschichten gehört. Tante Sunniva hatte immer erzählt, er sei persischer Herkunft, und der Edelstein stamme aus Burma …
Nora setzte sich an den Computer und gab www.arkive.org ein. Kurz darauf war sie auf ihrer Lieblingswebsite: IMAGES OF LIFE ON EARTH .
Das Erste, was sie sah, war ein Bild von Sir David Attenborough und einem Iberischen Luchs. Sie hatte jetzt die Wahl zwischen mehreren tausend Tier- und Pflanzenarten, von denen sie sich wunderschöne Fotos und Filme anschauen konnte. Sie konnte auch die heutigen mit den früheren Lebensräumen einer Art vergleichen.
Viele Ökosysteme auf der Erde waren schon stark geschrumpft, und immer mehr Verbindungen zwischen den noch gesunden, unversehrten Zonen wurden gekappt. In Afrika etwa waren viele Pflanzen und Tiere einmal von Ost bis West auf beinahe dem gesamten Kontinent verbreitet; heute fand sich diese vielfältige Flora und Fauna nur noch in den spärlichen Überbleibseln der ursprünglichen afrikanischen Bewaldung. Dasselbe galt für Europa, Asien und Amerika. Der Unterschied war vielleicht, dass die Zerstörung der biologischen Vielfalt Europas so viel früher eingesetzt hatte als in den anderen Erdteilen. In zentralen Teilen Europas gab es so gut wie keine großen Raubtiere mehr. Allein in Norwegen waren zwischen 1856 und 1893 über 5000 Bären erlegt worden.
Nora schrieb HOMINIDAE ins Suchfeld und hatte die Wahl zwischen sechs Arten von Menschenaffen. Es gab zwei Arten Schimpansen, zwei Arten Gorillas und zwei Arten Orang-Utans. Vier davon waren stark gefährdet, zwei galten bei der Weltnaturschutzunion als vom Aussterben bedroht. Alle Menschenaffen auf der Welt waren also entweder stark gefährdet
Weitere Kostenlose Bücher