212 - Das Skelett (German Edition)
Zeitgefühl und Schlafrhythmus war völlig gestört. Irgendwann wachte ich auf und klimperte verschlafen mit meinen Augen. Ich rechnete die Tage zuvor wirklich jede Sekunde damit, dass die Tür aufging und Artjom hereintrat. Mir war bewusst, dass er selber kommen und mir ins Gewissen reden würde. Und dann sah ich ihn - Artjom saß neben meinem Bett auf einem orangenen Stuhl. Er hatte Tränen in den Augen, das war nicht gespielt. Seine übliche schwarze Trauerkleidung schnürte mir zusätzlich den Hals zu. Schon in diesem Moment war mir bewusst, dass er meine größte Schwäche kennen würde. Ich stellte mir vor, wie mein Angstschweiß aus jeder Pore meines Körpers nach außen trat, und er diesen eigentümlichen Geruch aufsog. Es tat ihm wirklich leid, schwer zu verstehen, aber ich sah es ihm an. Mit Mühe kam mir ein Wort über die Lippen:
» Warum?«
» Henryk … «
Er brach ab und weinte, beugte sich über mich und gab mir vorsichtig einen Kuss auf meinen Mund. Einen Bruderkuss.
Ich war vollkommen ver wirrt. Was war das nur für ein Mann? Er gab mir unlösbare Rätsel auf. In hundert Jahren würde ich sein Denken und Handeln nicht verstehen. Dann folgte seine Erklärung:
» Als du mich angerufen hast, war ich nicht allein. Ich saß mit Michail und einem weiteren Mann aus meiner Führungsriege im Auto. Mein Handy war auf Mithören gestellt. Wir befanden uns schon in Hamburg, wir wollten dich besuchen, und ich mehrere Dinge mit dir durchsprechen. Eigentlich wollten wir dich überraschen und ein wenig feiern. Henryk, das war dein Pech – ich musste ein Exempel statuieren, sorry. Wenn es um viel Geld und derartige Strukturen geht, muss jedes Rädchen funktionieren. Ich kenne nur für mich oder gegen mich! Schwarz oder Weiß!
Ich habe mich noch nie in der Beurteilung eines Menschen geirrt. Henryk, ich verstehe dich nicht, wer bist du wirklich?
Doch e in verkorkster Moralapostel?
Alles , was du bislang getan hast, hätte ich zum Vergleich von anderen für ein paar Euro oder gar umsonst bekommen. Was hast du erhalten? Ungeahnte sexuelle Befriedigung von verfügbaren, wunderschönen und tabulosen Frauen. Selbst George Clooney würde vor Neid erblassen! Dann habe ich dein Vermögen um ein Vielfaches aufgepolstert. Du gehörst schon jetzt in Deutschland zu den Superreichen, und es kommt noch eine Menge Geld in den nächsten Jahren hinzu. Als Letztes habe ich dich in eine andere menschliche Liga erhoben, dahin gelangen nicht allzu viele. Durch unsere Organisation hast du schon mächtige Menschen kennengelernt, und das war erst der Anfang. Du bist im Besitz eines Gegenstandes, deines Füllers, der dir einen besonderen Status verleiht. Den erhalten nur eine Handvoll Personen, eigentlich nur Anteilseigner. Dazu gehörst du ja noch nicht, du solltest nur fünf Jahre an unserem Erfolg teilhaben. Aber ich habe zu Michail gesagt, du bist vollkommen auf unserer Wellenlänge und wirst ein verlässlicher Mitgesellschafter werden. Intelligent, eloquent und mit Ideen.
Also e ine Bereicherung für uns. Ich habe es eigentlich mit dieser bedeutungsvollen Geste nur vorgezogen, war es ein Fehler? Habe ich mich wirklich in deiner Person geirrt ? «
Er erwartete keine Antwort, denn er redete gleich weiter:
» Deine erhaltene Macht über andere ist nun grenzenlos, lernst du sie zu nutzen, stehen dir alle Wege offen. Sage mir, was du willst, dann finde ich einen Weg, damit du es bekommst. Nichts ist unmöglich, egal was deine Begierde auch sein sollte, ich mache es möglich. Sex, Reichtum, Macht! Dafür würden die meisten Menschen nicht nur einen Einzelnen töten, sondern ein ganzes Land ausrotten! Was ist nur dein Problem, was habe ich übersehen? Deine moralischen Ansprüche? Welche nur? Es gibt keine Moral und Ethik auf dieser Erde. Die erfolgreichsten Menschen und ihre Knechte, die Politiker, folgen nur einem faktischen Handlungsmuster.
Reichtum, Anerkennung und Möglichkeiten - die spürbare Macht - die daraus resultiert.
Alle a nderen laufen nur wie Ratten hinterher und glauben an eine höhere Philosophie von Recht und Moral. Es sind wenige Verblendete, sie erheben Werte, Prinzipien, Rechte und Pflichten für alle über allem. Das hört sich wunderschön an, es hat nur nichts mit der Wirklichkeit und dem Alltag zu tun. Ein Einzelner hat überhaupt keine Bedeutung, ich sagte es dir schon mehrfach. Seit Beginn der industriellen Revolution geht es nur noch darum, dem Kapital Türen zu öffnen.
Aber lassen wir das
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