2135 - Der Zeitbrunnen
war, musste auch Vegetation vorhanden sein. Wieso war das hier nicht der Fall? Die Wüste erstreckte sich, so weit das Auge reichte. War der Fluss etwa gar kein normaler Fluss? Führte er statt Wasser etwas ganz anderes?
Sihame stand auf und tauchte den Zeigefinger in die klare Flüssigkeit. Sie führte ihn zum Mund und leckte daran. Im nächsten Moment schrie sie angeekelt auf und spuckte heftig aus. „Säure!", rief sie. „Zumindest stark mit Säure versetzt." Sie spuckte erneut aus. Hoffentlich hatte sie sich nicht verätzt! Die Pfauchonin atmete tief durch die Nase und sah zum Himmel auf. Es war Tag auf dieser Welt, doch sie sah Hunderte, ja Tausende von gleißend hellen Sternen hoch über sich, und eine große blaue Sonne. Das gab ihr die letzte Gewissheit, dass sie sich nicht mehr auf Zabar-Ardaran befand.
Was jetzt?, überlegte sie kurz. Sie ging zu dem schwarzen Loch in der Welt zurück und hockte sich wieder an den Rand. Diesmal „sah" sie die Straßen und Gassen von Raud'ombir. Musste sie nur wieder durch diesen Fleck gehen, um zurück auf „ihre" Seite zu gelangen? Sie hatte den Gedanken, noch nicht zu Ende gedacht, als sie hinter sich ein Geräusch hörte. Sihame wirbelte herum, doch die Wurfschlinge, die sich um ihren Oberkörper legte, was schneller. Geschleudert hatte sie ein fettes, annähernd humanoides Wesen im Sattel eines sechsbeinigen Tieres mit kleinem Kopf und langem Schweif. „Was soll das?", schrie die Prinzessin. Die Schlinge zog sich fest um ihre Arme und die vier Brüste, als der Fremde daran zog. Sie war nicht mehr in der Lage, das Multifunktionsarmband zu aktivieren und auf diese Weise ihren Schutzschirm oder ihr Flugaggregat einzuschalten. „Mach mich sofort wieder los! Ich muss zurück in meine Welt!" Das Wesen sagte etwas in einer Sprache, die sie nicht verstand. Dabei deutete es mit der freien Hand immer wieder hinauf zum Himmel, zu den Sternen.
Glaubte es etwa, dass sie von dort kam? Es konnte ihr egal sein. Sie musste zurück, Soner suchen. Jetzt war er wahrscheinlich in der Herberge, aber für wie lange noch? „Kasch!", sagte der Fremde mit herrischer Stimme und wendete sein Reittier. Sihame zog er mit sich. Sie protestierte wild, doch er drehte sich nicht mehr zu ihr um. Und als sie stolperte und fiel, schleifte er sie einfach weiter mit sich.
Als sie die Oase erreichten, fühlte die Prinzessin sich halb tot. Ihr Entführer ließ die Leine der Wurfschlinge einfach los und stieg ab. Aber statt sich um Sihame zu kümmern, verschwand er in einem quaderförmigen Zelt, aus dem Lärm drang. Sihame lag im Sand und versuchte, sich zu befreien. Es ging erstaunlich schnell: Die Schlinge ließ sich öffnen und abstreifen. Mühsam erhob sich Sihame; ihre Kleidung war zerschunden und teilweise zerfetzt, ihre Glieder waren mit Striemen und anderen leichten Verletzungen übersät. „Na warte!", schimpfte die Pfauchonin. „So leicht kommst du mir nicht davon!" Aus anderen Zelten, insgesamt zählte sie ein halbes Dutzend, kamen dicke Wesen und scharten sich um sie. Einer war besonders auffällig: Er trug einen roten Burnus. Zudem war er einen Kopf größer als die anderen, die im Schnitt einen halben Kopf größer als die Pfauchonin waren.
Der Rote kam auf sie zu, verneigte sich und reichte ihr eine klobige Hand. Angeekelt streckte ihm Sihame die eigene Hand entgegen. Nach pfauchonischen Schönheitsbegriffen waren diese Wüstenbewohner ausgesprochen hässlich. Aber der Rote - Sihame sah in ihm einen Anführer - schien wenigstens zu wissen, was sich gehörte. Er deutete nochmals eine Verbeugung an und sprach eine Reihe von unverständlichen Worten.
Sihame winkte ab, zeigte auf ihre Ohren und schüttelte den Kopf. Der Rote schwieg sofort. Er schien die Geste zu verstehen.
Er trat näher an Sihame heran und legte beide Hände an ihre Schläfen. Sofort fühlte sie sich wie unter Strom. Wohlige Wärme breitete sich von den Schläfen aus, über den Kopf, die Brust, den ganzen Körper. Sie wurde müde, aber wieder auch nicht. Während die Schmerzen in ihren leichten Verletzungen schwanden, schienen zehntausend Stimmen in ihrem Bewusstsein zu flüstern. Als der Fremde die Hände wegnahm, bedauerte die Prinzessin es fast. Die Stimmen erloschen, aber die Wärme blieb. „Kannst du mich jetzt verstehen?", fragte der Rote. Sie konnte es, zu ihrer Überraschung. „Was hast du mit mir getan?", fragte sie. „War das so etwas wie eine Hypnobehandlung? Ich kann dich verstehen, du mich auch? Was
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