217 - Der Unsichtbare
kleiner Mann in edlen Kleidern trat vor. Er trug weiche weite Hosen und ein gelbes Schnürhemd. Seine kurz geschnittenen Haare waren ergraut, der kurze Bart weiß. Er hatte die Blüte seines Lebens bereits hinter sich gelassen, das faltige Gesicht wirkte eingefallen und kränklich. Und doch strahlte Santuu, Berater und Erster Forscher von Khaan Shahruuk, eine große Stärke aus. Er trug bei jedem Wetter einen orangefarbenen Schal, der sein Würdenzeichen war. Oree richtete unwillkürlich den Rücken noch gerader auf und wartete, bis der Berater des Khaan das Wort ergriff.
»Oree, mein Freund. Ein Jahr ist es her, dass du uns mit deinem Besuch geehrt hast. Was kann ich für dich tun?«
»Dasselbe wie letztes Jahr, Santuu.« Oree war der kleine Mann mit dem Glas vor den Augen unheimlich. »Ich möchte meine Schwester sehen und hoffe, sie dieses Jahr auslösen zu können.«
»Du gibst nicht auf, nicht wahr?« Santuu musterte ihn durch die dicken Brillengläser. Dabei warf er immer wieder begehrliche Blicke auf das Luftschiff. Er hatte längst angebissen. »Was soll ich melden?«
»Sage Shahruuk, ich bringe ihm ein Himmelsschiff aus den östlichen Landen hinter den Seen.«
Santuus Augen blitzten auf. »Nun, ich werde dafür sorgen, dass Shahruuk dich empfängt. Zumal du der Bruder seiner Lieblingssklavin bist.«
Oree musste all seine Selbstbeherrschung zusammen nehmen, um dem kleinen kränklichen Mann nicht das Brillenglas im Gesicht zu zerschlagen. »Gut«, presste er zwischen den Zähnen hervor. »Bring mich zu ihm.«
»Nicht so hastig.« Santuu klatschte in die Hände und gab den Kriegern Anweisungen. Sie holten den Efranten mit dem Luftschiff auf den Vorplatz der Festung in die äußere Mauer. Zwei Diener traten zu Oree. Santuu lächelte gönnerhaft. »Sie werden dich waschen und so herrichten, dass du die Augen des Khaan nicht beleidigst.«
Oree biss erneut die Zähne zusammen und folgte den Dienern. Dabei ließ ihn die Pracht der Feste verstummen. Er musste an die Legenden um den Bau von Fort Agraa denken. Als die Welt in die lange Dunkelheit versank, hatten sich die Induu hier an diesem Fleck gesammelt um gemeinsam einen Ort zu erschaffen, an dem sie die Zeit des Nuklaaren Winters überstehen konnten. Was genau dieser Nuklaare Winter war, wusste Oree nicht. Er hatte so vieles gehört aus der Zeit der Alten und auch einiges gesehen. Nur wenige Tagesmärsche entfernt lagen noch immer die Reste einer ehemaligen Stadt der Alten. Zwar hatten die Induu dort alles ausgeschlachtet, was sich ausschlachten ließ, trotzdem gab es noch Überbleibsel aus jener anderen Zeit, die zu groß waren, um begriffen zu werden. Mächtige Türme musste es da einst gegeben haben, weit höher als der Achteckturm der Feste. Der Gedanke daran verunsicherte Oree. Er versuchte sich vorzustellen, wie diese Menschen gelebt hatten – und scheiterte.
Dagegen konnte er sich sehr gut vorstellen, wie seine Schwester hier lebte: als Sklavin des Khaan. Orna war dem Herrscher vor fünf Jahren bei einem Prachtzug durch das Reich aufgefallen. Sie hatte neben Oree gestanden, jung und schön mit dieser schokoladenbraunen Haut, die sie zur Exotin machte. Als der Khaan dann auch noch von der Gabe der jungen Frau erfuhr, dem Lauschen, war seine Neugier endgültig geweckt. Durch das Lauschen konnten die Geschwister Gefühle und Gedanken anderer Menschen wahrnehmen.
Shahruuk brauchte Forschungsgegenstände und genau das war Orna für ihn. Ein Ding, das seinen Forscherdrang und seine Lust zu befriedigen hatte. Mit hasserfüllten Blicken musterte Oree die dicken Mauern der Festung. Sie passierten die innere Mauer und kamen an einem barkenförmigen Pavillon vorbei. Oree ließ die Prozeduren der Waschung über sich ergehen. Er wartete geduldig, bis man ihn in den großen Thronsaal mit dem Pfauenthron führte.
Die von mehreren roten Säulen gestützte Halle war beeindruckend, und der Thron mit seinen zahlreichen Diamanten und Pfauenfedern machte die Bittsteller, die vor ihn traten, sprachlos. Auf ihm saß Shahruuk. Er trug ein schwarzes Gewand aus weiten weichen Stoffen und einen schwarzen Turban mit Pfauenfeder. Im Gegensatz zu seinen Dienern war der Punkt auf seiner Stirn dunkel.
Oree sank auf dem roten Teppich vor den Stufen zum Thron auf die Knie.
»Oree.« Die tiefe Stimme des Khaan erfüllte die Säulenhalle. »Santuu teilte mir mit, dass du mir ein Luftschiff als Geschenk gebracht hast.«
Oree schluckte und sah auf in dieses verhasste Gesicht mit
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