21st Century Thrill - Mind Games
sollte.
Unfähig, sich zu beruhigen, graste er das Internet nach dem Stichwort „Psychiatrisierung“ ab. Im Grunde ging es darum, dass Menschen von Ärzten als psychisch krank stigmatisiert wurden. Man legte ihnen nahe, sich in die Psychiatrie einweisen zu lassen, weil sie in irgendeiner Hinsicht auffielen. Obgleich nicht alle so beeinträchtigt waren, dass sie in ihrem Alltag nicht zurechtgekommen wären. Kris las Berichte von Betroffenen, bis er am ganzen Körper zu zittern begann. Menschen wurden eingesperrt, von ihren Verwandten und Freunden getrennt, mit Psychopharmaka vollgestopft, bis sie dachten, sie existierten zweimal und ihr Double flüstere ihnen des Nachts Geschichten zu. Der Willkür schienen Tür und Tor geöffnet. Wer unliebsam wurde oder Pech hatte, wurde als Psychowrack abgestempelt. Konnte man einem solchen Menschen anhängen, dass er suizidgefährdet war, stand einer Zwangseinweisung nichts mehr im Weg.
Kein Wunder, wenn Leute, die Stimmen hörten, das erst mal lieber für sich behielten. Wer ging schon freiwillig in die Klapse.
Kris hatte wirklich genug von all diesen kranken Blogs und Chatrooms, dennoch las er weiter und weiter. Die Storys wurden immer haarsträubender. Justiz, Polizei und Psychiatrie räumten unliebsame Leute aus dem Weg: zum Beispiel politische Aktivisten, Jugendliche, die über längere Zeit die Schule schwänzten und durchschnittliche Bürger, die gegen die Müllgebühren in ihrer Gemeinde protestierten. Kris konnte es nicht glauben. Alle diese Fälle hatten sich nicht in irgendeinem Bananenstaat zugetragen, sondern in Deutschland. Sogar ein Reporter, der Material zu einem Pharmaskandal veröffentlicht hatte, war zwangseingewiesen worden. Ein Artikel schloss mit den Worten: Psychiatrisierung ist ein probates Mittel zum Machterhalt geworden.
Er brauchte sich keine Illusionen zu machen.
Von allen Feinden, die er gegen sich hatte aufbringen können, war er an den mächtigsten und grausamsten geraten: zweifelhafte Konzerne, die bereit waren, Menschen für ihren Profit zu opfern.
Kapitel 30
FREITAG
Kris schlief schlecht. In der Schwüle klebte das T-Shirt an seinem Körper. Mitten in der Nacht stand er auf, um kalt zu duschen. Dicke Wolken hingen über der Stadt. Doch es regnete nicht. Eine Schmeißfliege warf sich gegen das Badezimmerfenster. Immer und immer wieder.
Jons Zimmertür war geschlossen. Irgendwas hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Es ging um Val. Konnte gar nicht anders sein. Kris legte sich aufs Sofa. Sein Kopf schmerzte. Erst gegen Morgen schlief er ein.
Als er aufwachte, war es nach elf. Jon saß in seinem Zimmer, die Earbuds in den Ohren. Sein Oberkörper bewegte sich zuckend im Takt der Musik. Es sah gespenstisch aus.
„Wo ist dein Vater?“, fragte Kris.
Jon reagierte nicht.
„Jon!“ Kris packte seinen Kumpel an den Schultern.
„Scheiße, Mann!“ Mit einer einzigen Bewegung riss sich Jon die Ohrhörer herunter. „Du hast mich erschreckt!“
„Du hast mich nicht gehört.“
„Muss ich dich hören oder was?“
„Ich will mit dir reden.“
Jon richtete sich auf. Er war kleiner als Kris. Jetzt baute er sich mitten im Zimmer auf, die Hände zu Fäusten geballt.
„Wenn du Val willst“, stieß er hervor, „sag es! Ich dachte, wir hätten eine Abmachung! Stattdessen baggerst du sie hinter meinem Rücken an!“ Jons aufgestauter Zorn entlud sich mit beängstigender Macht. „Pack deinen Scheiß zusammen und zieh Leine!“
„Hast du sie noch alle?“ Kris trat einen Schritt zurück. „Was habe ich denn gemacht?“
„Geknutscht vielleicht?“, schlug Jon bedrohlich leise vor.
Fuck. Jon musste sie gestern gesehen haben. Wahrscheinlich war er ihnen nachgekommen, um sie bei Frances aufzusammeln!
„Jon“, begann Kris.
„Du brauchst mir nichts zu erklären. Zieh los mit Val! Hängt eure Zeit im Internet ab und rennt in euer Unglück. Macht doch, was ihr wollt.“
Bebend vor Wut stöpselte Jon die Earbuds wieder ein und stellte die Musik so laut, dass Kris die hämmernden Bässe spüren konnte.
Es hatte einfach keinen Sinn, mit Jon zu reden.
Kris ging ins Arbeitszimmer, räumte seine Sachen in den Rucksack und verließ die Wohnung.
Die einzige Anlaufstelle, die ihm blieb, war Frances’ Café. Tagsüber. Wo er nachts bleiben würde, musste er später klarkriegen.
Tatsächlich war Val schon im Café und hämmerte auf die Tastatur eines Rechners ein. Sie ließ sich so leicht nicht entmutigen. Weder von irgendwelchen
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