222 - Angriff auf die Wolkenstadt
neun schrien auf wie ein Mann. Nefertari aber rannte los. Das Fass. Das Wasser. Aruula begriff, dass die Königin notfalls die ganze Welt gegen sich aufbringen würde, nur um an das Wasser zu gelangen.
Auch spürte sie die jähe Veränderung, die mit Nefertari vorgegangen war. Wo hatte sie auf einmal die Kraft für zwei tödliche Schwerthiebe und den Spurt her?
Da siedete etwas in ihrem Blut, dämpfte etwas jede Angst, da sorgte etwas für den Tunnelblick, den man brauchte, wenn man alles riskieren wollte, riskieren musste.
Eine ungeheure Energie überflutete Nefertaris Blut –Aruulas Blut. Eben noch halb verdurstet und zu Tode erschöpft, rannte sie jetzt der Wasserquelle auf dem Anhänger des ersten Dampfwagens entgegen.
Aruula kannte nicht den Namen des körpereigenen Stoffes, für dessen Ausschüttung Nefertari sorgte – Adrenalin –, aber sie hatte schon von Fällen gehört, in denen Todgeweihte in höchster Not zu Handlungen fähig waren, die weit über ihre Kräfte hinaus gingen. Seltsam, dies jetzt mitzuerleben, ohne selbst körperlich betroffen zu sein.
Die Männer erwachten aus ihrer Schreckstarre. Nefertari hörte ihre Schreie und Schritte hinter sich. Etwas rauschte, eine Axt wirbelte dicht an ihrem Ohr vorbei. Sie kümmerte sich nicht darum. Eine Keule wirbelte dicht über ihren Kopf und schlug vor ihr im Sand auf. Ein zweiter Knüppel traf sie an der Schulter. Sie schien es nicht einmal zu spüren.
Die Menge am Fass stand erst wie erstarrt und blickte ihr ungläubig entgegen. Dann aber ging ein Aufschrei durch die acht oder neun Männer und Frauen. Sie stoben auseinander und ergriffen die Flucht.
Nur einer nicht. Ein großer, dickleibiger Kerl mit grauem Bart und verfilztem langen Haar. Der Anführer; Nefertari spürte es sofort, und Aruula auch. Der hier war der Patriarch der Wegelagerer. Er zückte einen Krummsäbel und trat ihr entgegen. Er tat es mit einer Gleichmütigkeit, mit der man auf eine Schlange, eine Ratze oder ein lästiges Insekt zutrat.
Nefertari verlangsamte nicht einmal ihren Schritt. Sie bückte sich unter seinem Säbelhieb weg, rammte ihm die Schwertspitze in den Oberschenkel und trennte ihm mit dem zweiten Schlag den Säbel samt der Hand vom Arm.
Der Räuberhauptmann sank ächzend in die Knie.
Fassungslos stierte er seinen Armstumpf an. Nefertari riss ihren Dolch aus dem Gurt, warf sich hinter dem Fettwanst auf die Knie und drückte ihm die Klinge unter die Kehle.
Die Männer, nur noch acht oder neun Schritte von ihr entfernt, blieben abrupt stehen. Keiner feixte mehr, keiner brachte auch nur ein Wort über die Lippen.
»Keinen Schritt weiter«, krächzte Nefertari, »oder ich töte ihn!«
Vermutlich hatten die Männer nie zuvor Worte der Sprache gehört, die sie benutzte, und dennoch schienen sie genau zu verstehen. Sie rührten sich nicht vom Fleck, wagten kaum zu atmen.
Nefertari aber lehnte ihr Schwert gegen das Vorderrad des Anhängers, beugte sich zurück und zog den blutenden und stöhnenden Anführer mit sich. Mit der Rechten griff sie über sich und öffnete den Hahn des Wasserfasses. Der Strahl rann in ihr Haar. Sie legte den Kopf in den Nacken und das Wasser schoss in ihren weit geöffneten Mund.
Trink nicht so schnell, raunte Aruula in Nefertaris Bewusstsein hinein. Erinnere dich, als du am Nil getrunken hast, nach der Flucht aus dem Grab!
Gerade noch rechtzeitig kam Nefertari zur Besinnung und hielt inne, ließ sich das warme Wasser nur weiter über den Körper strömen. Ihr Magen sandte bereits Schmerzwellen aus, doch sie behielt bei sich, was sie getrunken hatte.
Dann stand sie auf. Mit dem Dolch an der Kehle des Schwerverletzten zwang sie diesen ebenfalls auf die Füße. Der Patriarch stöhnte und ächzte. Nefertari drehte das Wasser ab und griff nach ihrem Schwert.
Er verblutet, raunte Aruula, wenn sein Armstumpf nicht rasch verbunden wird!
Der Ärmste, gab Nefertari zurück. Deine Probleme möchte ich haben. Sie stieß den Mann von sich, kletterte auf den Anhänger und von ihm aus auf das Wasserfass. Dort angekommen, hielt sie inne. Aruula sah schwarze Punkte vor ihren Augen tanzen und spürte, wie Schwäche ihren Körper überflutete.
Was ist los?, fragte sie, obwohl sie es schon ahnte.
Keine Kraft mehr, wehte Nefertaris Stimme heran. Das ist…
der Preis… für Ei’dons letzten Beistand.
Ei’don – war das einer ihrer Götter? Und sein letzter Beistand musste das Aufbäumen von Kraft gewesen sein, das sie eben erlebt hatte. Es hatte
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