223 - Die Sünden des Sohnes
spreche von Ehrenmann zu Ehrenmann.«
Daa’tan lächelte amüsiert. Das Wort Ehrenmann war ihm neu. Grao’sil’aana hatte es ihm nie beigebracht. »Wir werden sehen«, sagte er gleichmütig. »Kommt ganz darauf an, wie Ihre Leute sich benehmen werden. Ich habe nämlich eine Menge Wünsche an sie.«
***
Nur für einen Augenblick hatte Matthew Drax das Bewusstsein verloren – als er in der pendelnden Gondel mit dem Kopf gegen den Lukenrand geprallt war. Als er wieder zu sich kam, war es düster, und er rutschte hinter der Ballonhülle durch Geäst und Laub. Am Boden traf er auf etwas Weiches, das winselte und jaulte.
Chira.
»Ist ja gut«, flüsterte er. Er hielt ihr die Schnauze zu. »Ganz ruhig, alles ist gut…« Aufmerksam lauschte er. Es war dunkel, denn der Ballon hüllte ihn ein. Irgendwo über sich hörte er Kampflärm, irgendwo in der Nähe hörte er Flammen prasseln. Doch keine Schritte näherten sich.
Er tastete nach seinen Knochen – Schmerzen, wohin er griff, doch nichts war gebrochen. Durch einen Riss in der Ballonhülle spähte er nach oben. Drei oder vier Meter über ihm schwankten Baumwipfel. Auf der Wallkrone wurde gekämpft. Er hörte laute Stimmen, sah Frackträger und Federbüsche, und dreißig Meter weiter nördlich hing der nackte Oberkörper einer Frau halb auf dem Wall, halb im Gestrüpp, das ihn einhüllte. Ihr langes blauschwarzes Haar hatte sich in den Ranken verfangen.
Aruula! Sie war bewusstlos. Oder tot? Männer bückten sich nach ihr und hoben sie hoch. Dann verschwand sie aus Matts Blickfeld.
Er spähte nach links und rechts. Er und die Lupa waren in einen Wald gestürzt, der ihm vom Luftschiff aus aufgefallen war – in einem schmalen Streifen von höchstens sechzig Metern verband es das Seeufer und die Ostseite der abgestürzten Stadt. Keine zwanzig Schritte entfernt von ihm schlugen Flammen aus dem niedrigen Wäldchen. Schusslärm krachte.
Rulfan! War er mit der Gondel in den Wald gestürzt?
Matt kroch unter der Hülle hindurch ins Unterholz. Chira folgte ihm. Am Waldboden robbte er bis zum Brandherd. Doch schon nach wenigen Metern schlug ihm die Hitze entgegen und er musste zurückweichen. Er kroch um den Brandherd herum. Chira hielt sich dicht hinter ihm. Sie winselte, das Feuer war ihr nicht geheuer.
Die Schüsse explodierten in den Flammen. Unwillkürlich tastete Matt Drax nach seinen mit Munition prall gefüllten Beintaschen. Ein Großteil der Geschosse war in seinem Rucksack im Luftschiff zurückgeblieben. Matt stieß einen Fluch aus. Über ein paar umgeknickte Bäume hinweg sah er schließlich die Gondel. Sie lag auf der Einstiegsseite, aus den zerbrochenen Fenstern schlugen Flammen. Die letzten Geschosse explodierten im Feuer.
Matt Drax dachte an Rulfan. Es war ein Albtraum. Wie gelähmt verharrte er im Unterholz. Aus diesem brennenden Wrack gab es keine Rettung mehr.
Stimmen näherten sich von oben. Ein paar der Krieger, die Wimereux-à-l’Hauteur erobert hatten, seilten sich von der Wallkrone ab. Hatten sie ihn entdeckt?
Matthew Drax zog sich ein Stück in den Wald zurück. Innerlich war er wie taub. Seine Waffe fiel ihm ein. Er tastete nach ihr – weg! Die Krieger mit den Federbüschen auf den Köpfen waren noch fünf Meter von den Baumwipfeln entfernt. Matt huschte zurück zur Ballonhülle, Chira hinterher.
Sie wuselte an ihm vorbei, verschwand als Erste unter der halb zerfetzten Hülle und kehrte zurück, als Matt Drax sich gerade bückte, um ihr zu folgen. Der Mann aus der Vergangenheit traute seinen Augen nicht: Zwischen den Fängen der Lupa hing ein Riemen, und an dem Riemen hing eine Kalaschnikow.
»Du musst in direkter Linie von Lassie abstammen…« Er klopfte Chira auf die Flanke und hängte sich die Waffe um. Doch er war weit davon entfernt, Glücksgefühl oder auch nur Erleichterung zu empfinden. Die ganze Zeit musste er an die brennende Gondel denken, an Rulfan. Und natürlich an Aruula.
Tier und Mann schlichen in Richtung Seeufer. Doch schon nach wenigen Schritten merkte Matt, dass die Krieger am Wall es gar nicht auf ihn abgesehen hatten. Sie waren aus der Stadt geklettert, um das Feuer zu löschen. Er kroch an einer Stelle ins Unterholz, von der aus er sie beobachten konnte.
Von der Wallkrone wurden Wasserschläuche herunter gelassen. Aus seiner Deckung heraus sah er, wie die Krieger sie packten, das brennende Wrack umringten und aus den Schläuchen Wasser in die Flammen spritzten. Neben ihm drückte Chira sich tief ins
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