223 - Die Sünden des Sohnes
Unterholz, strich das Laub unter den Büschen hervor. Eine halbe Stunde rutschte er so unter der Weide herum und suchte die Schlange.
Als er sie endlich berührte, packte ihn der Ekel und er zuckte zurück. Schlangen hatte er schon als kleiner Junge verabscheut. »Reiß dich zusammen«, schimpfte er mit sich selbst. »Wenn du das Gift willst, musst du sie wohl oder übel anfassen.«
Vorsichtig tastete er nach dem Schwanz, packte ihn und zog ihn zu sich. Fleggen summten auf. Matt Drax erwischte den Schlangenkopf; gut roch er nicht. Behutsam tastete er mit dem kleinen Finger nach den Giftzähnen. Wieder zuckte er zurück – diesmal war es nicht der Ekel: Die Zähne waren spitz wie Nadeln.
Der Mann aus der Vergangenheit konzentrierte sich. Alles, was er je über Schlangengift gelesen, gehört oder gesehen hatte, rief er sich in Erinnerung. Wie zapfte man es ab? Konnte man es einem Kadaver überhaupt noch abzapfen? Und wenn ja – wie bewahrte man es auf?
Um darüber nachzudenken, hatte er noch viel Zeit. Denn natürlich brauchte er Licht, um die feinen Zahnspitzen zu sehen und das Gift zu gewinnen. Also musste er bis Sonnenaufgang warten.
Er legte die Schlange direkt am Stamm der Weide ab, damit er sie später leicht wieder fand, und ging zum Seeufer zurück. Chira leckte noch immer Wasser auf. Sie winselte schon etwas kräftiger, als sie ihn kommen hörte. Mit gekreuzten Beinen setzte er sich ans Ufer.
»Wenn du von den Toten auferstanden bist, dann schaffe ich es auch in diese Stadt«, flüsterte Matt. Er griff in die Beintasche seines Anzuges und holte drei Patronen für seine Kalaschnikow heraus. »Ich habe eine Idee, weißt du?« Er schraubte die Geschosse auseinander, leerte den explosiven Inhalt ins Gras und wusch die Hülsen aus. Danach trocknete er sie sorgfältig mit seinem Unterhemd. »Eine gute Idee, und du hast mich darauf gebracht…«
***
»Lass uns allein, Grao!« Daa’tan griff zur Flasche und füllte sich seinen Kelch. Ein Schwall ging daneben und floss über den Tisch. »Ich will in Ruhe mit meiner Mutter reden!«
»Du solltest nüchtern sein, wenn du mit ihr redest.« Grao’sil’aana kam näher. »Ich bringe sie jetzt erst einmal in eines der kaiserlichen Schlafquartiere, und du schläfst deinen Rausch aus. Danach könnt ihr reden.«
»Das ist mein Rausch!« Wieder brauste Daa’tan auf. »Und das ist meine Mutter! Ich will mit ihr reden, verstanden? Allein!«
»Natürlich, mein Junge.« Grao’sil’aana hob beschwichtigend die Klauen; eine fast menschliche Geste. »Das sollst du auch. Doch lass uns das auf morgen verschieben, wenn du ausgeschlafen bist. Jetzt ist es Zeit für dich zu ruhen.« Immer näher kam er heran. »Wir haben einen anstrengenden Tag vor uns, Daa’tan. Morgen Abend werden wir die Wolkenstadt wieder…!«
»Bist du taub?!« Daa’tan packte seinen Kelch und schleuderte ihn seinem Mentor ins Gesicht. Der wich reflexartig zurück. »Ich allein bestimme, wann ich schlafen gehe!« Mit der Faust klopfte er sich auf die Brust. »Ich allein bestimme, wie viel ich trinke und wie lange ich mit meiner Mutter spreche! Verschwinde! Sofort!«
Er will uns töten, raunte Aruula in Nefertari Geist.
Woher willst du das wissen? Nefertari stand auf, ging um den runden Tisch herum und stellte sich hinter Daa’tan.
Ich kann es in seinen Gedanken erkennen.
»Geh endlich!« Daa’tan brüllte, Tränen liefen ihm über die Wangen. Er riss Nuntimor aus der Rückenscheide und hob die Klinge über den Kopf, als wollte er zuschlagen. Obwohl Daa’tan torkelte und eigentlich keine Gefahr mehr darstellte, wich Grao’sil’aana bis auf den Gang vor der Tür zurück.
»Verdammtes Dienerpack!«, brüllte Daa’tan hinaus. »Wenn ihr noch einmal jemanden zu mir lasst, schlage ich euch die Köpfe ab!« Er knallte die Tür des Thronsaals zu und schloss zu.
Heulend wankte er auf Nefertari zu. »Ist es denn wirklich wahr, Mutter? Hat Grao mich wirklich betrogen? Das kann doch nicht sein! Er ist doch für mich wie ein Vater!«
Du musst ihn in die Arme nehmen, raunte Aruula in Nefertaris Bewusstsein, du musst ihn trösten!
Etwas linkisch schloss Nefertari die Arme um den Burschen. Er weinte laut an ihrer Schulter.
Später hockte er mit hängenden Schultern am Tisch, trank und jammerte über die Ungerechtigkeit des Schicksals und die Treulosigkeit der Welt. Da empfand sogar Nefertari Mitleid mit ihm. Sie redete ihm gut zu und tröstete ihn, so gut sie konnte.
Lange nach Mitternacht stemmte
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