223 - Die Sünden des Sohnes
Laute zu verraten.
Er setzte sich zu ihnen. Flüsternd sprachen sie miteinander. Rulfan erfuhr, dass sie Hunger und Durst und Angst hatten, dass zwei feindliche Krieger den Eingang des Gebäudes bewachten und dass der Hofstaat im Musikzimmer und der Küche des Palastes eingesperrt war. Auch, dass die Eroberer Huutsi-Krieger waren und ihr König Daa’tan hieß, erzählten sie dem bleichen Mann.
Die verstörten Menschen teilten ihr letztes Wasser mit Rulfan und reinigten seine Wunden mit Öl. Danach fasste sich eine der Frauen ein Herz und ging zu den Wachen hinaus. Von einem Fenster aus hörte Rulfan sie mit den Kriegern reden. Sie habe verdächtige Geräusche im Gestrüpp am Wall gehört, und ob sie bitte nachschauen würden, denn sie und ihre Familie fürchteten sich.
Beide Wächter kamen auf das Haus zu. Rulfan zog seinen Säbel und seinen Dolch und verbarg sich hinter der Tür. Als die Krieger eintraten, bohrte er dem einem die Spitze des Säbels in den Rücken und legte dem anderen von hinten den Dolch an die Kehle. Die beiden erstarrten zu Salzsäulen und konnten von den Frauen problemlos gefesselt und geknebelt werden. Einer der beiden, der ungefähr Rulfans Statur hatte, wurde zuvor noch bis auf das Unterzeug entkleidet.
Die Hausbewohner und ihr später Gast lauschten eine Zeitlang in die Nacht hinaus, ob das Fehlen der Wachen bemerkt würde, aber alles blieb ruhig. Nun legte Rulfan die Sachen des Huutsi-Kriegers an und befestigte dessen Federbusch auf seinem Kopf, nachdem er sich das weiße Langhaar mit einem schwarzen Tuch aus der Stirn und hinter die Ohren gebunden hatte. Auch die Waffen nahm er an sich: zwei Messer, ein Kurzschwert, eine Lanze, zwei Faustfeuerwaffen.
Eine der Frauen schwärzte Rulfans Gesicht, seine Hände und Beine mit Ruß. Unten an der Haustür wartete er, bis es ruhiger wurde in der Stadt. Er versprach zurückzukommen und die Hausbewohner von den beiden verschnürten Wachen zu befreien, sobald er dazu Gelegenheit hatte. Ein Versprechen, von dem er hoffte, es halten zu können.
Dann ging er hinüber zum Start- und Landeplatz der Luftschiffe. Er ließ sich Zeit, tat, als gehöre er zu den Eroberern. Niemand wurde auf ihn aufmerksam. Er versteckte sich in der Gondel einer Roziere.
Sein Plan war einfach: Er wollte das Luftschiff starten und auf dem Dach des Palastes landen. Also öffnete er den Brennkessel und schaute sich nach Brennmaterial um.
Ein Schatten glitt am Gondelfenster vorbei. Rulfan spähte hinaus. Eines der Luftschiffe, die geholfen hatten, den Stadtkorpus aufzurichten, setzte zur Landung an.
Rulfan wartete ab. Vom Fenster aus beobachtete er die Landung. Ein Luftschiff zu kapern, in dessen Brennkammer das Feuer noch loderte und in dessen Druckkessel das Wasser noch kochte, war vermutlich der kürzere Weg zum Palast. Wahrscheinlich aber auch der gefährlichere.
***
Die letzten zwei Meter sprang er. Breitbeinig und die Kalaschnikow im Anschlag landete Matt Drax im Gras – und nahm sofort den Finger vom Abzug.
Chira kroch auf ihn zu!
»Du lebst…?« Er warf sich neben der Lupa auf die Knie, schlang seine Arme um ihren Hals und drückte sein Gesicht in ihr Nackenfell. »Du lebst wirklich!« Alles hätte er erwartet, nur das nicht.
Sie winselte leise, leckte ihm die Hand. Ihre Nase war heiß, ihre Zunge trocken. »Warte.« Er stand auf, blickte sich um. Irgendetwas, mit dem er Wasser transportieren konnte, brauchte er jetzt. Er fand nichts. Zuletzt blieb sein Blick an seinen Stiefeln hängen. Nein. Er bückte sich, schob die Arme unter die Lupa und hievte sie hoch. Obwohl er schwankte unter ihrem Gewicht, kam ihm ihre Last köstlich vor. Chira lebte! War das ein gutes Omen oder etwa nicht?
Er trug sie zum See und legte sie im seichten Uferwasser ab. Während sie soff, dachte er nach. Was war geschehen? Die Schlange! Ihr Gift tötete nicht, sondern betäubte nur, und zwar äußerst wirksam. So wirksam, dass es vermutlich den Stoffwechsel auf ein Minimum drosselte; und zugleich natürlich auch die Atmung und die Herzfrequenz. Ja, so musste es sein!
Die Schlange! Sie war die Lösung!
»Bleib hier.« Er kraulte Chiras Nackenhaar. »Sauf dich voll, ruh dich aus!« Er stand auf. »Ich bin gleich wieder bei dir.«
Er lief zurück zur Weide. Dort suchten seine Augen den Boden ab. Es war viel zu dunkel, um den Kadaver einer schwarzen Schlange im Gras und im Unterholz entdecken zu können. Er fiel auf die Knie und tastete den Boden mit den Händen ab, zerwühlte das
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