223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall
dem auch der Gendarmerieposten untergebracht ist. Zu seiner Unterstützung hat er den Standesbeamten Erwin Mika kommen lassen, der alle Vorgänge zu protokollieren hat, sicher ist sicher. Mika wundert sich zuerst über diese Aufgabe, schreibt dann aber gehorsam nieder, wer und wann den Gendarmerieposten betritt oder verlässt, mehr ist sowieso nicht zu erkennen.
Zum ersten Mal in der neueren Geschichte Persenbeugs, das ist Oberbürgermeiser Maier schmerzhaft bewusst, werden die Geschicke der Kommune nicht vom Gemeindehaus mit seiner eindrucksvollen Barockfassade, mit seiner schönen, gewölbten Eingangshalle, mit seinem prächtigen Sitzungs- und Trauungssaal, mit seinem geradezu höfischen, mit einem Relief von der Türkenbelagerung verzierten Kachelofen, mit seinem Gemeindemuseum und dem imposanten Mansardenwalmdach bestimmt, sondern ganz und gar vom Gendarmerieposten, wo offenbar und sonderbarerweise ein Ortsfremder wie dieser Revierinspektor Winkler das Sagen hat. Josef Maier spürt geradezu körperlich, wie seine Macht als nationalsozialistischer Gemeindeführer von Stunde zu Stunde, ja von Minute zu Minute schwindet und eigentlich schon dahin ist. Er weiß selbst am besten, dass dieses geradezu kindische Beobachtungsprotokoll, das er den Standesbeamten mangels besserer Ideen führen lässt, nicht das Geringste daran ändern kann und ändern wird.
Mühselig erreichen die 3 bisher unentdeckt gebliebenen Überlebenden auf ihrem langen, langsamen Marsch am späten Nachmittag eine entlegene Gegend, die »Im Brand« genannt wird. Ein nicht sehr steiler, behäbig breiter Wiesenhang, locker bestückt mit uralten, windschiefen Mostobstbäumen. Mitten darin der Hof der Familie Georg Forsthofer, ein wuchtiges Bauernhaus mit dicken, buckligen, weiß gekalkten Mauern, mit riesigen Dachflächen und spärlichen, kleinen Fenstern, mit einer stattlichen Stallung gegenüber dem Wohntrakt und mit einer breiten, aber nicht sehr hohen Toreinfahrt und einem pfortenähnlichen Eingang gleich daneben.
Es gibt Orte der Freude, Orte des Grauens und Orte, die gar nichts ausstrahlen. Wer weiß, was das für ein Ort ist?, denkt der stumme, junge Mann aus Miskolc, der in der vergangenen Nacht zwar seine Sprache verloren hat, nicht aber seine innere Stimme, seine Ängste und seine Verzweiflung.
Tibor Yaakow Schwartz, das viel zu schnell erwachsen gewordene Kind, überlegt angestrengt, ob der Bauernhof, vor dem sie stehen, wirklich das Haus ist, in dem seine Schwestern vor wenigen Tagen milde Gaben erhalten haben. Sie haben ihm den Weg beschrieben, aber er ist sich nun nicht sicher, ob er seine beiden Gefährten die richtige Strecke in diesen entlegenen Winkel des Persenbeuger Hinterlandes geführt hat.
Wenn ich mich geirrt habe, ist es vielleicht aus mit uns dreien. Wenn es die falschen Leute sind, holen sie womöglich die SS, denkt er. Jede Angst, und sei sie noch so groß, ist steigerbar, besonders für einen 11-Jährigen, auch wenn er noch so tapfer ist wie Yaakow.
Wir könnten nicht einmal davonlaufen, denkt Marton Rosenthal, ich schon gar nicht. Wenn wir nicht bald wenigstens eine Kleinigkeit zu essen bekommen, kann sich die SS die paar Kugeln für uns sparen.
Der 11-jährige Bub klopft zaghaft an die Pforte. Jetzt ist ihr Glück oder Unglück nur mehr eine Frage von Sekunden.
Die Sekunden werden für sie zu Minuten, Stunden, Tagen, ja Ewigkeiten, bis endlich das schwere Türblatt der Pforte mit einem Ruck aufgeht.
Diesmal braucht Marton Rosenthal nichts zu erzählen. Der Bauer steht in Hemd und Hose in der Pforte, füllt sie mit seinem kurzen, stämmigen Körper fast ganz aus, zieht seinen speckigen, schwarzen Hut tiefer in die Stirn und weiß mit einem einzigen Blick auf die 3 ungleichen Jammergestalten, was es geschlagen hat. Und der Matthäus, dieser verflixte Evangelist, geht schon wieder in seinem Kopf herum, er wird die Sätze nicht los, die er von den allsonntäglichen Kirchenbesuchen auswendig kann wie das Amen im Gebet:
Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen
.
»Du da!«, sagt der Bauer, der ein älterer, bedachter Mann ist und auf seinem Hof seit jeher alle Entscheidungen aus eigenem Gutdünken trifft, auf seinem Misthaufen nicht mehr und nicht weniger als ein König ist,
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