225 - Kalis Kinder
Kali saß mit entblößtem Oberkörper da. Dieses Gesicht mit der spitzen Nase und dem verzerrten Mund, aus dem die Zunge hing, erschien ihm wie eine Horrormaske. Die verdrehten Augen darin starrten in die Gegend, das linke schräg nach oben, während ihn das rechte zu fixieren schien.
Bei der Göttin, die da vor ihm saß, handelte es sich zweifellos um einen siamesischen Zwilling. Dass die Kali-Jünger die Fleisch gewordene Göttin selbst in ihr sahen, war nicht weiter verwunderlich. Und warum die Unglücklichen aus Kovlam von ihnen als »Verehrungswürdige« bezeichnet wurden, war Matt auch sofort klar: Sie litten unter den gleichen fürchterlichen Hautveränderungen wie die Göttin vor ihm!
Stammte auch sie von der Buutyfaam?
Matt streckte ihr wie gewünscht die Zunge heraus, Ingolf tat es ihm gleich. Sie durften sich setzen. Kuduvasi blieb neben der Göttin stehen.
Kali begann zu sprechen, mit einer rauchigen, etwas leiernden Stimme, und Kuduvasi wies auf Ingolf, der die Worte für den Fremden übersetzen sollte.
»Warum hast du unsere Tyger getötet, Maddrax?« Sie kannte seinen Namen; Kuduvasi hatte ihr offenbar schon berichtet.
»Aus Unwissenheit, Göttin«, antwortete Matt nach kurzem Überlegen. »Ich war fremd und kannte nicht die wahren Verhältnisse. Ich sah nur, dass Menschen in Gefahr waren.«
Kali nickte. »Eine gute Antwort. So hatte ich dich bereits eingeschätzt, nachdem du Kuduvasi im Dschungel beigestanden hast. Das rettet dich vor dem Opferaltar, wo dir das Herz bei lebendigem Leibe herausgerissen würde.« Sie kicherte, während Ingolf mit zitternder Stimme übersetzte.
»Ihr opfert also doch Menschen?«
Ächzend rückte sie sich in eine bequemere Position und streichelte fast zärtlich ihr zweites Gesicht. »Nein, Maddrax, das ist es, was Swamui über uns verbreitet. Ich habe meinen Jüngern von jeher verboten, Menschenopfer darzubringen; weder mir noch einem der anderen Götter. Wir wollen hier nur in Ruhe und Frieden leben und unsere Religion ausüben, das ist alles.« Sie sah Kuduvasi an. »Du kannst ihm seine Waffe wieder zurückgeben, Oberkalii. Ich spüre, dass er ein guter Mensch ist. Zeigen wir ihm, dass wir guten Willens sind.«
Kuduvasi reichte Matt wortlos seinen Colt Python, den er in seinem Gürtelbund getragen hatte.
»Danke.« Matt nickte ihm zu und ließ die Waffe im Holster verschwinden. »Darf ich dir eine Frage stellen, Göttin?«
»Sie sei dir gewährt«, übersetzte der Deutsche.
»Bist auch du ein Opfer Swamuis? Es ist nicht zu übersehen, dass die Verehrungswürdigen dieselben… Zeichen aufweisen wie du.«
Nachdem Ingolfs Stimme verklungen war, kicherte sie erneut. Die Wolke üblen Gestanks, die von ihr ausging, verstärkte sich noch. »Im Grunde hast du recht, obwohl ich nie auf der Buutyfaam oder auch nur in Kovlam war. Ich habe mein unterirdisches Reich mein ganzes Leben lang nicht verlassen.« Sie drehte den Kopf. Es knackte in ihrem Genick, einige Hautfetzen lösten sich und wirbelten wie feiner Staub im flackernden Licht. »Erzähle du ihm meine Geschichte, Kuduvasi.«
Der Oberkalii blickte nun schon etwas freundlicher drein. Er wechselte noch einige Worte mit seiner Göttin, dann ließ er Ingolf übersetzen:
»Die Göttermutter Triva floh einst von ihrem Vater Sukmanda aus dem Götterhimmel, weil sie an ihm gefrevelt hatte. Sie hatte ihm das Öl seiner ewigen Jugend und Schönheit gestohlen, weil sie selbst schön sein wollte. Doch als er es bemerkte, floh sie vor seinem Zorn in den Dschungel, denn sie wusste, dass sie nicht auf seine Gnade hoffen konnte, trotzdem sie zu dieser Zeit ein Kind erwartete. Sie nahm das Öl der ewigen Schönheit mit, doch Sukmanda hatte dieses längst verflucht. Und so verkehrte sich die Wirkung des Öls ins Gegenteil. Triva wurde krank und alterte schnell. Kalis Kinder fanden sie im Dschungel und nahmen sie mit in ihr Reich. Sie pflegten sie einige Sonnenumläufe, konnten die Göttermutter aber nicht mehr retten. Als Dank für diese Hilfe machte Triva ihnen aber das Geschenk der Fleisch gewordenen Göttin Kali, die von nun an unter ihren Jüngern lebte und« – er verneigte sich vor der Alten – »für ewig leben wird.«
Matt fragte sich, welch dramatisches Schicksal in dieser mythologisch verbrämten Geschichte steckte. Und wie sie mit dem verbrecherischen Hilar zusammenhing. Denn das Öl, von dem hier die Rede war, musste mit Swamuis Wundersalbe identisch sein.
Vor der Höhle wurden Stimmen laut. Ein Wächter
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