2256 - Bahnhof im Weltraum
Kehle zusammen. Und der Zorn auf den lethargischen, inkompetenten Leutnant von der ISA ließ sie zittern.
Kortez war also nicht das einzige Besatzungsmitglied, das spurlos verschwunden war.
Normalerweise hätten in der ISA sämtliche Alarmglocken läuten müssen. Doch Roghen hatte so getan, als wäre es das Normalste auf der Welt, reine Routine, als gäbe es keinen Grund zur Besorgnis.
Es war beängstigend.
Erneut beschlich sie das Gefühl, dass irgendetwas auf entsetzliche Weise nicht in Ordnung war. Und was war mit dieser unerklärlichen Häufung von Krankheitsfällen? War im Weltraumbahnhof etwa eine unbekannte Seuche ausgebrochen? Aber dann hätten die Mediker doch bereits reagiert und eine Warnung durchgegeben. Und die Biofilter des Lebenserhaltungssystems töteten sämtliche Bakterien und Viren in der Luft ab.
Außerdem erklärte eine Seuche nicht, warum Kortez' Kom-Armband kein Transpondersignal mehr sendete.
Sie überlegte fieberhaft. Vielleicht hatte es mit dem Hypersturm zu tun, in den sie geraten waren. Vielleicht waren die fünfdimensionalen Schockfronten der Raumbeben auf irgendeine unerklärliche Weise für die Krankheitsfälle verantwortlich.
Sie schüttelte den Kopf, um die Angst zu vertreiben, die sie wie eine unsichtbare Hand umklammerte, und setzte sich wieder in Bewegung. Mit großen, schnellen Schritten kehrte sie zum Antigravschacht zurück.
Wenn die ISA nichts unternahm, um Kortez zu suchen, würde sie es eben selbst tun.
Zum Teufel mit der Doppelschicht, zum Teufel mit Nigel Nesson.
Es ging um das Leben eines Menschen, des Mannes, den sie liebte. Um das Leben mehrerer Menschen, wenn sie die anderen Vermissten alle bedachte. Sie konnte nicht tatenlos abwarten und so tun, als wäre nichts passiert.
Im Unterdeck angekommen, eilte sie zum Pneumolift, der die Tender des Weltraumbahnhofs miteinander verband. Unterwegs passierte sie einen Lastengleiter, der mit positronischen Ersatzteilen beladen vor dem offenen Schott einer Lagerhalle stand. Der Fahrer saß hinter den Kontrollen, stierte mit schlaffem Gesicht ins Leere und rührte sich nicht.
Sie dachte an Siron Dvorak, den Technikerkollegen, der ihr auf dem Weg zu ihrer Kabine begegnet war. Er hatte denselben abwesenden Gesichtsausdruck gehabt.
Cilia verlangsamte ihre Schritte und blieb neben dem Gleiter stehen. „Ist alles in Ordnung?", fragte sie den Fahrer. „Geht es dir gut?"
Er antwortete nicht, schien sie nicht einmal gehört zu haben. Wie in Trance saß er da, der Welt entrückt, in einem Traum gefangen, zu dem nur er allein Zugang hatte.
Sie lief weiter, nun vollends überzeugt, dass etwas Furchtbares im Weltraumbahnhof vor sich ging, dass irgendetwas passiert war, was ihr aller Leben aus den Fugen geraten ließ.
Mit einer Pneumokabine fuhr sie zum Tender 3, nahm einen Antigravlift zum Wohndeck und erreichte schließlich Kortez Melanders Quartier, ohne auf weitere Besatzungsmitglieder zu treffen. Der Weltraumbahnhof wirkte wie ausgestorben, und die Stille, die unerklärliche Leere verstärkten ihre Befürchtungen noch.
Sie betätigte den Türsummer, aber nichts rührte sich. Die Luke blieb geschlossen.
Sie hatte nichts anderes erwartet. Mit bebenden Fingern tippte sie den Zutrittskode in das elektronische Schloss; Kortez hatte ihn ihr bei ihrem letzten Rendezvous anvertraut, als Zeichen seiner Liebe, und als sie daran dachte, schössen ihr die Tränen in die Augen.
Die Luke glitt zur Seite. „Guten Tag, Cilia Perish", begrüßte der Kabinencomputer sie, als sie Kortez' Quartier betrat. „Es ist schön, dich wiederzusehen."
Sie schaute sich um. Die Unterkunft war leer, das Bett unberührt. Auf der Nachtkonsole stand ein Holobild, das Kortez' Familie zeigte, seine Eltern und Geschwister, freundliche Gesichter, die den Betrachter anlächelten. Auf dem schmalen Tisch an der Kabinenseite sah sie eine filigrane Vase mit verdorrten Blumen. Ein Hauch von Lilienduft lag in der Luft. „Kann ich irgendetwas für dich tun?", fragte der Kabinencomputer, als sie nichts sagte. „Ich suche Kortez", stieß sie hervor, obwohl sie sicher war, dass der Rechner ihr nicht helfen konnte. „Weißt du, wo ich ihn finden kann?"
„Leider nicht. Er ist seit zwei Tagen nicht mehr hier gewesen."
Sie hatte mit der Antwort gerechnet, ballte aber trotzdem enttäuscht die Hände. „Als ich ihn das letzte Mal sah", fügte der Computer hinzu, „ging es ihm gesundheitlich nicht gut. Er fühlte sich abgespannt, erschöpft. Er sagte, er wollte
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