23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV
wir zu den Rudern griffen, schaute er noch einmal nach dem Stein hinauf und sagte:
„Dort laß ich das Gerippe! Mir ist, als ob es mein eigenes Skelett sei, mein früheres. Ich habe jetzt ein neues. Das ist nicht starres Knochenwerk, aus dem mir das Vergangene, die Zähne fletschend, in die Augen grinst, sondern ein fester, froher Wille, der vor Freude jauchzt, gutmachen zu können, was ich verbrochen habe.“
Er saß in der Mitte des Bootes zwischen uns beiden, mit dem Rücken nach vorn. Während wir nach dem Kanal ruderten, schaute er bald rechts, bald links an mir vorüber nach den bewegten Wellen hinter uns.
„Sie kommen!“ sagte er, sich nach den Augen greifend.
„Wer?“ fragte ich.
„Die Geister meiner Lebenstage, alle, alle, alle! Ich sehe sie. Sie schwimmen hinter uns her. Ihre Köpfe ragen aus dem Wasser.“
Ich dachte an meinen Traum und an die Geister, welche mir hinaus in den See gefolgt waren. Als wir uns im Kanal befanden, wiederholte er:
„Sie folgen auch hier, eng beieinander, Kopf an Kopf!“
„Beruhige dich“, antwortete ich, „es ist das Phantasie!“
„Meinst du? So laß sie mir! Die Tage meines Lebens sollen mit mir hinauf zum Tempel steigen. Sie, meine Ankläger, sollen mit mir beten und werden dann verschwinden; so hoffe ich!“
Draußen empfing uns der helle Mondschein! Ich lenkte zunächst geradeaus, ganz so, wie es im Traum geschehen war. Es lag etwas in mir, was mich bestimmte, so und nicht anderes zu tun. Da fragte der Aschyk:
„Sind es die Wellen unseres Bootes, welche immer breiter werden? Ich sehe noch immer Kopf an Kopf. Sie kommen aus dem Berg. Die Schar wird breiter und immer breiter. Aber die vorderen folgen uns, und die anderen kommen hinter ihnen her.“
Nun befanden wir uns an der Stelle, wo wir im Traum gehalten hatten. Da gab ich dem Fahrzeuge die Richtung nach dem südlichen Ufer, nach derselben Stelle, wo die erlösten Geister an das Land gestiegen waren. Da verließen auch wir das Boot und zogen es ein Stück an das Ufer, weil es hier nicht angebunden werden konnte. Die Fackeln waren natürlich ausgelöscht worden. Da hielt der Aschyk mir seine Hände hin und forderte mich auf:
„Binde mich, Effendi!“
„Wozu?“
„Daß ich dir nicht entfliehen kann, während wir zum Beit-y-Chodeh gehen.“
Da legte ich ihm die Hand auf die Achsel, sah ihm in das Gesicht und antwortete:
„Zu wem willst du? Hinauf zu Gott? Und da soll ich dich fesseln? So lange die Erde steht, ist es noch keinem Menschen gelungen, mit seiner Stimme Gott wirklich zu erreichen, wem ihm die Hände des Gebetes gefesselt waren! Steig auf zu ihm, aber frei!“
„Frei – frei!“ jubelte er, die Hände hoch erhebend. „Du hast das Richtige gewählt, Effendi, ich werde nicht fliehen, sondern eng bei dir bleiben, wie ein Hund, der seinem Herrn gehorcht, weil er ihn liebt – liebt – liebt!“
„Du wirst nicht eng bleiben, denn ich gehe nicht mit.“
„Also wohl Kara Ben Halef?“
„Auch nicht. Wir bleiben hier. Du gehst allein.“
„Allein?“
Er trat einige Schritte zurück und staunte mich mit großen Augen an.
„Ihr geht nicht mit?“ rief er aus, „keiner von euch? Ist das wahr, ist das wahr?“
„Ja.“
„Effendi – Sihdi – Emir! Ich bin ein Dieb, ein Fälscher, ein Betrüger, ein Helfershelfer der Mörder! Ich habe dich und euch alle mit vernichten wollen. Ich habe Pekala verführt und Tifl verführt, welche gute Menschen waren und noch gute Menschen sind, welche euch liebten und immer, immer lieben werden! Und du gibst mich frei, vollständig frei? Weißt du, ich habe dich vorhin da drin im Berg angelogen. Ich habe nicht gebetet. Ich bin nicht besser, sondern schlechter geworden. Ich werde jetzt gehen und mich an dir rächen! Bedenke das, bedenke!“
„Still; sei still! Wo und wann du gelogen hast, das weiß ich vielleicht besser als du selbst. Ich kenne dich, wie du früher warst, und ich kenne den, der du jetzt geworden bist. Du steigst jetzt ganz allein hinauf und wirst dann wiederkommen. Grad deine Warnung gibt mir die Gewähr, daß ich dir mein Vertrauen schenken darf. Mich zu täuschen, warst du niemals fähig, und von jetzt an kommt es dir auch gar nicht in den Sinn!“
Da sank er in den Sand des Ufers nieder, griff nach meiner Hand, drückte sie an sein Herz und an seine Lippen und sprach:
„So holt sich Allah den Verlorenen wieder, den die Gerechtigkeit des Menschen noch tiefer in den Abgrund stoßen würde! Effendi, ich bin gar wohl
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