23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV
sollst ihn jetzt noch einmal hören. Ich bin überzeugt, daß du mir dann sofort den Namen des Ämir-i-Sillan sagen wirst.“
Ich nahm das Schreiben mit der linken Hand hoch, las es in der beabsichtigten Weise vor und ahmte mit der Rechten die heut beobachteten, unendlich selbstbewußten Gesten nach. Kaum war das letzte Wort von meinen Lippen, so rief der Peder:
„Der Mirza, der Mirza, wie er leibt und wie er lebt!“
Der Ustad aber holte tief Atem. Seine Augen schienen größer zu werden. Sie schauten durch die offene Tür in die Nacht hinaus, genau mit jenem Blick, den er in die unsichtbare Ferne gerichtet hatte, als er heut vor der Dschema unter dem Baume stand.
„Ah – ri – man – – – Mir – za –!“ seufzte er dann. „Wer ist von uns beiden der Hellsehende, Effendi? Als ich heut vor euch stand und diese Stimme hörte, deren Nachahmung dir jetzt so täuschend gelungen ist da stiegen alte, ferne, ferne Bilder in mir auf. Es ging ein Schatten von mir aus, weit über diese meine geliebten Berge hinüber. Im Westen angekommen, richtete er sich auf, um Gestalt, um Farbe und um Leben anzunehmen. Ich erkannte diese Gestalt und dieses Gesicht: ich war es selbst; es war das meine! Da aber begann es sich zu verwandeln. Es nahm andere Konturen und andere Züge an, und als sich das vollzogen hatte, als wer stand ich dann da? Als Ahriman, als Ahriman Mirza, der jetzt, in diesem Augenblick, zu meiner Dschema sprach. Hatte dieser aus meiner Vergangenheit auftauchende Schatten hier in der Gegenwart menschliches Wesen angenommen, damit mir endlich, endlich die Erleuchtung komme, wem ich den raschen Absturz meines Lebensweges zu verdanken habe? Wer warf mich damals nieder? Wer gab mir den Gedanken ein, zu fliehen? Du sagtest, Effendi, daß es nicht das Leben, sondern mein eigener Schatten gewesen sei. Ich hatte ihn so oft, so oft gesehen, doch nie erkannt. Heut zeigte er mir endlich sein Gesicht. Heut war er Ahriman, der geistige ‚Weltzerstörer‘, der mit dem niederen Sinn der blinden Masse kost, um alles ihm Verhaßte zu vernichten.“
„Wohl dir“, sagte ich. „Du hast den Richtigen gesehen!“
„Meinst du es auch? Den Mirza mit dem falschen Prunkgeschmeide? Den Geist der nachgemachten Edelsteine, mit deren Flimmern er der Menge imponiert? Den wohlgesinnten Schmeicheldemokraten, in Wahrheit aber großen Demagogen? Den treuen Förderer des öffentlichen Wohls, der aber nur sein eigenes erstrebt? Den immer hilfsbereiten Volkserbarmer, der aber diese seines Volkes Seele mit egoistischer Berechnung niedertritt? Den anerkannten Feind und Richter jeder Lüge, der aber doch, sobald sie ihm nur paßt, grad vorzugsweise sie in seinem Stall züchtet? Ich hätte ihn schon längst erkennen sollen und bitte dich, Effendi, merk ihn dir!“
Ich machte, ohne zu antworten, ganz unwillkürlich eine Handbewegung welche ihn zu der Frage veranlaßte:
„Wie meinst du das? Was wolltest du mit dieser Geste sagen? Ich glaubte zwar, du habest ihn bei mir zum erstenmal gesehen, doch da du schon so oft im Morgenland warst, so ist es möglich, daß du ihm auch früher schon begegnet bist.“
„Im Morgenland?“ lachte ich. „Nein, nein! Doch kenne ich ihn auch; mehr habe ich nicht zu sagen. Du hast ihn gut gezeichnet. Wenn man dich sprechen hört, kann man sich gar nicht irren. Nun aber muß ich dich nach einem fragen: Du hast ihm heut verziehen. Aus welchem Grund wohl?“
„Verziehen? Ich? Wieso?“
„Du gabst ihm jenes Märchen aus ‚Tausend und ein Tag‘, in welchem selbst der Teufel selig wird. Woher nahmst du die Dichtung, daß die Hölle schon vor der Menschheit auf zum Himmel steigt?“
„Verzeihung ist edler als Rache. Weißt du das nicht, Effendi?“
„Ich weiß es. Aber der Verzeihung muß die Reue vorangehen. Das ist Gottes Ordnung! Auch ich habe gefehlt, viel gefehlt. Als ich das erkannte, habe ich bereut und habe gebüßt. Ich war nur ein Mensch, also zu entschuldigen. Ich verzeihe gern, unendlich gern, weil auch mir verziehen wurde. Aber ich bin nicht Gott, der seine Ordnung ändern kann. Soll ich allein bereuen, mein Schatten aber nicht? Ich sage dir, ich hätte ihm ein ganz anderes Märchen erzählt, nicht aus ‚Tausend und einer Nacht‘ und nicht aus ‚Tausend und einem Tag‘, sondern jenen wunderbaren Schluß aus ‚Tausend und ein Narr‘, in welchem der Sultan sie alle zu den heulenden und tanzenden Derwischen sperren läßt!“
Da sah er vor sich nieder, sinnend, längere Zeit.
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