23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
derselbe Fehler? Dann weiß man, dass auch der erste Fehler wahrscheinlich kein Fehler war. Vielmehr wussten Merton und Scholes schlicht nicht, was sie taten.
Wenn Träger des Nobelpreises in der Sparte Wirtschaft – insbesondere wenn sie den Preis für ihre Arbeit zur Unternehmensbewertung erhalten haben – nicht in der Lage sind, den Finanzmarkt zu beurteilen, wie können wir dann einem ökonomischen Prinzip folgen, das voraussetzt, dass die Menschen stets wissen, was sie tun, und deshalb am besten in Ruhe gelassen werden sollten? Wie Alan Greenspan, der ehemalige Vorsitzende des Federal Reserve Board, in einer Kongressanhörung einräumen musste, war es ein »Fehler anzunehmen, dass Organisationen, insbesondere Banken, aufgrund ihres starken Eigeninteresses am ehesten dazu in der Lage seien, Aktionäre und Kapital in den Firmen zu schützen«. Ein Eigeninteresse schützt die Menschen nur, wenn sie wissen, was vor sich geht und wie sie damit umgehen sollen.
Im Zusammenhang mit der Finanzkrise des Jahres 2008 gelangen immer mehr Geschichten ans Tageslicht, die zeigen, dass die scheinbar klügsten Köpfe eigentlich gar nicht wussten, was sie taten. Wir reden hier nicht über Hollywoodgrößen wie Stephen Spielberg und John Malkovich oder den legendären Baseballspieler Sandy Koufax, die ihr Geld bei dem Betrüger Bernie Madoff anlegten. Diese Menschen zählen zwar zu den Besten ihres Fachs, doch müssen sie deshalb noch lange keine Ahnung von Finanzen haben. Wir reden von den fachkundigen Fondsmanagern, den Spitzenbankiers (von denen etliche für die größten Banken der Welt wie die British HSBC oder die spanische Santander arbeiteten) oder Bildungseinrichtungen von Weltruf (etwa die New York University und das Bard College), wo einige der weltweit renommiertesten Wirtschaftswissenschaftler lehren, die alle auf denselben Trick von Madoff hereingefallen sind.
Schlimmer noch: Es dreht sich nicht nur darum, dass Betrüger wie Madoff oder Alan Stanford die Anleger hinters Licht führten. Das Versagen der Banker und anderer sogenannter Experten, die es allesamt besser hätten wissen müssen, durchdrang den gesamten Markt und erfasste auch die legalen Finanzgeschäfte. Der britische Schatzkanzler Alistair Campbell war entsetzt, als ihm einer dieser »Experten« im Sommer 2008 mitteilte, man werde »von jetzt an nur noch dann Geld vergeben, wenn wir das damit verbundene Risiko absehen können«. 1 Ein weiteres, noch verblüffenderes Beispiel bot die AIG, eine amerikanische Versicherungsgesellschaft, die im Herbst 2008 von der US-Regierung gerettet wurde. Sechs Monate vor dem Kollaps des Unternehmens soll dessen Finanzvorstand Joe Cassano gesagt haben: »Ich will keinesfalls leichtsinnig erscheinen, aber ein Szenario, bei dem wir durch Kreditausfallversicherungen auch nur einen einzigen Dollar verlieren, liegt so weit jenseits aller Wahrscheinlichkeit, dass wir es uns kaum vorstellen können.« Die meisten von Ihnen – insbesondere, wenn Sie ein amerikanischer Steuerzahler sind, der die Suppe auslöffeln durfte – mögen es weniger amüsant finden, dass Herr Cassano angeblich nicht leichtsinnig handelte. Die AIG ging hauptsächlich nicht deshalb Konkurs, weil das traditionelle Kerngeschäft zusammenbrach, sondern weil ihr die Kreditausfallversicherungen ein Loch von 441 Milliarden ins Portfolio rissen.
Wenn also Nobelpreisträger in der Sparte Finanzwirtschaft, Spitzenbankiers, hoch dotierte Fondsmanager, renommierte Universitäten und die klügsten Prominenten bewiesen haben, dass sie nicht wissen, was sie tun, wie können wir dann Wirtschaftstheorien anerkennen, die auf der Annahme basieren, dass Menschen durch und durch rational handeln? Das Fazit, das wir aus alledem ziehen müssen, ist, dass wir schlicht und ergreifend nicht schlau genug sind, um den Markt sich selbst zu überlassen.
Aber was fangen wir nun mit dieser Erkenntnis an? Sollten wir denn über Marktregulierungen nachdenken, wenn wir nicht einmal schlau genug sind, um ihn sich selbst zu überlassen? Die Antwort lautet: Ja. Und wir sollten nicht nur darüber nachdenken. Häufig brauchen wir eine Regulierung eben deshalb, weil wir nicht schlau genug sind. Ich will Ihnen zeigen, warum.
Der letzte Renaissancemensch
Herbert Simon, der 1978 mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet wurde, ist vermutlich der letzte Renaissancemensch der Welt. Er fing als Politikwissenschaftler an, beschäftigte sich dann mit der öffentlichen Verwaltung und schrieb
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